Maryam.fyi über die Revolution im Iran: Erinnert ihr euch noch?
Die feministische Revolution, begonnen in Kurdistan, die uns am 20. Oktober 2022 zu abertausenden in Berlin auf die Straße getrieben hat? Das, worüber der Grammygewinner Shervin Hajipour sein Lied „Baraye“ gesungen hat? Es sind mittlerweile mehr als 250 Tage vergangen, seit die großen Aufstände im Iran – dem Land meines Vaters – begonnen haben. Ich bin Maryam und ich versuche, euch auf dem Laufenden zu halten. Aber wo fange ich dieses Mal an? In einer Situation, in der es unmöglich erscheint, einen Überblick zu gewinnen und in der ein Ausweg nicht zu erkennen ist.
Ein Regime der Angst
Legen wir mal hiermit los: Seit Mitte April 2023 richtet das Regime des Irans alle sechs Stunden einen Menschen hin. Ihr habt richtig gelesen: Alles sechs Stunden wurde in den letzten Wochen ein Mensch hingerichtet. Das macht über 200 Unschuldige. Die genaue Nummer ist mir nicht bekannt, aber Amnesty International Iran oder Iran Journal veröffentlichen immer mal wieder Statistiken. Die Dunkelziffer ist unbestimmt – wieviele noch folgen, ebenfalls.
Die leblosen Körper werden an Baukränen hochgezogen, oftmals in der Öffentlichkeit. Das Ziel? Angst schüren. Die Menschen in ihre Häuser drängen und der harten Hand des Islamischen Regimes unterwerfen. Und man könnte denken, die Taktik wirkt, wenn man sich anschaut, wie gering der Aufschrei europäischer Regierungen und besonders unserer Vertreter:innen hier in Deutschland auf die massiven Verletzungen der Menschenrechte im Iran dieser Tage ist.
Saleh, Majid, Saeed
Am 19. Mai 2023 hat die Islamische Republik drei junge Männer im Gefängnis in Isfahan erhängt. Ihre Namen waren Saleh Mirhashemi, Majid Kazemi und Saeed Yaghoubi. Zuvor hatten tagelang Angehörige und nicht-Angehörige vor dem Gefängnis in Isfahan demonstriert und damit ihre eigene Sicherheit aufs Spiel gesetzt. Das ist, was im Mai passierte: Die Angehörigen wurden benachrichtigt, dass ihre Familienmitglieder bald die Todesstrafe erfahren würden.
Daraufhin eilten Menschenmengen zu dem Gefängnis in Isfahan, in dem die Betroffenen ihr Ende erwarteten. Die Mitarbeiter:innen des Gefängnisses reagierten dann scharf: Sie schossen von Posten am Gefängnis auf die Protestierenden, verhafteten und verjagten diese. Manchmal, so wie im Fall der drei hier genannten, führt diese Aufruhr zum Aufschub der Todesstrafe um einige Tage. Doch dann: Unerwartet an einem Morgen, nach etlichen Posts, Protesten, Petitionen, dem Kontaktieren von internationalen Botschafter:innen und unruhigen Nächten, las man sie dann doch – die Schreckensnachrichten: Alle drei wurden erhängt. Majid, Saleh und Saeed.
Und damit ist kein Ende gefunden in der Tragödie um die betroffenen Familien: In den folgenden Tagen wurde es den Angehörigen verboten, angemessen um ihre ermordeten Kinder, Brüder oder Freunde zu trauern. Die Brüder von Majid Kazemi wurden zudem ebenfalls verhaftet und verprügelt. Oder anders gesagt: Die Gewalt ist maßlos und unvergleichlich grausam.
Doch was sagt uns das? Die Diktatur im Iran fürchtet um ihr Bestehen. Aus Angst vor der Kraft des Volkes versucht das Regime, sich zu halten. Circa 50 Millionen Menschen des Landes sind unter 30 Jahre alt und streben nach Freiheit. Trotz aller dramatischen Geschehnisse, geben die Menschen nicht auf, und das sollte uns auch motivieren.
„Lasst uns nicht alleine.“
Was momentan geschieht, war lange erwartet. Schon vor Monaten befürchteten Menschenrechtler:innen, dass sobald die internationale Aufmerksamkeit schwindet, das Morden in anderem Ausmaß seinen Lauf nehmen würde. Das, was aktuell passiert, ist Grund für die nachdrücklichen Aufrufe all derjenigen, die im Ausland versuchen, die Revolution zu unterstützen. Kurz vor der Hinrichtung hatten die drei Männer, über die ich zuvor sprach, Briefe aus der Haft heraus geschickt, mit der Bitte: „Lasst sie uns nicht umbringen. Lasst uns nicht alleine.“ So brutal dieser Zusammenhang ist, so wichtig ist es, dass endlich alle verstehen: Aufmerksamkeit, Sichtbarkeit und Empörung im Ausland rettet Leben.
Im Moment kriegen wir hier in Deutschland von weniger Aufständen im Iran mit. Das liegt einerseits daran, dass weniger Aufstände stattfinden. Aber es liegt auch daran, dass quasi jede:r im Iran einen Menschen kennt, der mindestens Verletzungen, wenn nicht schlimmeres, von den Protesten mit sich getragen hat. Was wir aber nicht mitbekommen, ist in welcher Form der Solidarisierung die Proteste im Alltag weitergehen.
Die Mädchen, deren Augen beschossen wurden, posten mittlerweile von ihren Narben Fotos in den sozialen Medien, um zu zeigen: „Wir machen weiter. Wir haben es überstanden und lassen uns nicht klein kriegen.“
Wenn Mann sein nicht mehr reicht
Und darüber hinaus? Ich hatte euch mal von meiner persischen Lieblingsmusik erzählt. Darunter war auch ein Lied von Mohsen Yeganeh: „Behet Ghol Midam“. Er und viele weitere iranische Popmusiker haben ein Berufsverbot erhalten. Nicht einmal Männer (und das betone ich so, weil immerhin sie es waren, die zuvor frei auf Konzerten Musik spielen durften), dürfen mehr ihre Kunst, ihren Beruf ausüben. Popmusik sei zu nahe an der westlichen Kultur orientiert.
Schaut euch ihre Performance an und folgt ihr, bitte. Thank me later.
Vor wenigen Wochen wurde der Deutsche Filmpreis „LOLA“ verliehen. Und nicht nur, dass der Film „Holy Spider“, der von einer wahren Begebenheit über Femizide in Mashhad im Iran spielt, den bronzenen Filmpreis gewinnt – besonders stark war an diesem Abend die Anmoderation der Künstlerin Jasmin Shakeri (die ihr hoffentlich schon längst kennt) und die sich nie nehmen lässt, auf der Bühne Verantwortung zu tragen.
Kians Geburtstag
Eine traurige Geschichte muss ich noch mit euch teilen. Gestern war der zehnte Geburtstag des kleinen Kian Pirfalak, den das Regime vor einigen Monaten auf der Strasse ermordet hat. Kian ist zu einem Symbol der Revolution geworden. Es gibt Videos, in denen der kleine Junge erzählt, dass er gerne Wissenschaftler werden wollte, Erfinder. Gestern waren viele Menschen unterwegs um an Kians Grab seinen Geburtstag zu feiern. Ein Cousin von Kians Mutter, der 21-Jahre alte Puya Molaei-Rad, wurde bei diesen „Feierlichkeiten“(pervers, diese überhaupt so zu betiteln), erschossen.
Ich frage mich immer wieder aufs Neue: „Was kann ich noch tun? Vergessen wir gerade alle die Menschen im Iran wieder?“ und dann versuche ich, mir selber eine Antwort zu finden: Wir können immer noch so viel tun. Denn nur, solange wir uns als Zivilbevölkerung, als Künstler:innen, als Menschen in einer freien Demokratie empören und von unseren gewählten Vertreter:innen Aktion einfordern, wird diese überhaupt zum Thema.
Also, bitte:
- unterzeichnet diese Petition, in der die Freilassung von Nahid Taghavi, einer Kölnerin, die im Evin-Gefängnis sitzt und deren gesundheitlicher Zustand kattestrophal ist, eingefordert wird
- folgt @iran_journal und teilt ihre Inhalte
- hier findet ihr ein Gespräch zwischen Natalie Amiri, Gilda Sahebi und Tilo Jung von letzter Woche bei der Re:Publica, ab 3:52:00 ca., falls ihr mehr Hintergründe wollt
doch vor allem: VERLIERT NICHT DIE HOFFNUNG. Redet weiter untereinander über den Iran, lasst das Thema nicht abebben. Nur so sind wir Unterstützer:innen der Menschen, die tagtäglich ihr Leben riskieren, um irgendwann hoffentlich frei und unbeschwert auf der Strasse tanzen und Händchen halten zu können.
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