Sorgen um das eigene Internetverhalten, Junge Arbeiter & Y2K-Revival – Was diese Woche wichtig war
Hallo zusammen!
Manchmal sorgt man sich ja wirklich um das eigene Internetverhalten. Zum Beispiel, wenn wieder einmal Werbung eingespielt wird, bei der man sich fragt, wie man da eigentlich ins sogenannte „Targeting“ geraten ist. Der Autor dieses Newsletters hatte zum Beispiel in den letzten Wochen gleich mehrfach Werbung für die Konzerte von Xavier Naidoo im TikTok-Feed. Hat sich TikTok etwa gemerkt, wie lange ich in der Pandemie verwirrt bis angeekelt auf die Videos dieses Mannes geschaut habe, der neben Gott-Komplex, Größenwahn, Reichsbürger-Liebe und antisemitischem Verschwörungs-Quatsch ganz augenscheinlich nun auch noch massive psychische Probleme hat? Eigentlich kann es nur das gewesen sein, denn seine schon vorher oft religiös verstrahlten Songs wurden höchstens mal zu Recherche-Zwecken gehört. Das gilt vor allem für Naidoos Song „Heimat – Sprich mit uns“, das hoffentlich nicht in der Setlist seiner aktuellen Tour nicht auftauchen wird. Hier singt er nämlich mit Hannes Ostenfdorf, dem Frontmann der rechtsradikalen Hooligan-Band Kategorie C – unter anderem Zeilen wie „Deine Heimat gibst du so schnell nicht auf.“ Wer dieses Lied hört – vor allem den Part wo Naidoo raunt „Spürst du mein Atmen“ und Ostendorf besoffen von Vaterlands- und/oder Naidoo-Liebe fast zärtlich antwortet „Ich höre dein Rauschen“ – weiß eine Weile nicht, ob man lachen, weinen oder kotzen möchte. Am besten alles zusammen.
Naidoo ist ein weiteres Beispiel, dass die vor allem von rechtskonservativen und stramm rechten Stimme so gerne angeführte „Cancel Culture“ so schlimm nicht sein kann. Anders können wir es uns nicht erklären, dass Naidoo ohne ernst- oder glaubhafte Distanzierung von dem Scheiß, den er damals von sich gegeben hat, gleich die größten Arenen des Landes füllen kann. Die sich dafür auch noch gerne zur Verfügung stellen. Noch mehr gruselt es uns aber vor der Publikumsmischung: Neben den alten Fans seiner Musik, die nicht von ihm lassen können oder wollen, werden sicher auch viele neue Freundinnen und Freunde kommen, die er sich in den letzten Jahren „erarbeitet“ hat. Vielleicht sollten wir uns also mal inkognito unter dieses Volk mischen, um einen Vorgeschmack zu kriegen, wie all die Leute so ticken, die sich gerade in diesen Rechtsruck-Zeiten auf dem Vormarsch wähnen …
Miriam trifft Junge Arbeiter: Über das Aufwachsen in Stuttgart, Rap-Einflüsse und Gastarbeiter-Geschichte
Das Schwabenland ist eine der Keimzellen des deutschen Hip-Hop. Freundeskreis, CRO, RIN – die Liste der Rap-Artists die aus Stuttgart und Umgebung stammen, könnte noch Ewigkeiten weitergehen. Für die Newcomer Junge Arbeiter – also Theo, Marcel und Mo – spielt dieser Herkunftsort ebenso wie das Aufwachsen als Nachkommen kurdischer, türkischer und griechischer Gastarbeiter:innen eine zentrale Rolle. Von dieser Kreuzung rappen sie auch in ihrem Track „Echte Player“: „Dikka, ich bin Stuttgarter, mach Flous so wie der Neckar“.
Mit dem Mercedes-Stern des Automobil-Werks Sindelfingen im Hintergrund erklären die drei, was der Kern ihrer musikalischen Identität ist: „Junge Arbeiter erklärt schon unsere Mentalität. Da geht’s nicht nur um Sindelfingen, sondern da geht’s auch um den Ursprung. Dass unsere Vorfahren, also unsere Opas, hierhergekommen sind. Wir sind alle hier in dritter Generation“, so Marcel. Und Mo ergänzt: „Bei Junge Arbeiter geht’s allerdings nicht nur um die Gastarbeitergeneration, sondern es geht um die dritte Generation, um unsere Generation, um das Miteinander. Am Ende des Tages komme ich nicht aus der Türkei, sondern ich komme von hier, ich komme hier aus dem Süden.“
Moderatorin Miriam Davoudvandi hat Junge Arbeiter für unsere Doku-Reihe „Deutschraps Untergrund“ in ihrer Heimat besucht.
Unsere Lieblingssongs in dieser Woche
Jolle hat gerade einfach einen Lauf: Auch ihre neue Single „50 stufen grau“ ist wieder einmal atmosphärisch, eingängig, melancholisch und hittig zugleich – eine Kombi, die man ja erst einmal stimmig hinbekommen muss. Agatha Is Dead beweisen mit „no love to prove“ vor allem ihre Liebe zum Alternative-Rocksound der Nullerjahre, den sie hier wieder aufleben lassen. Die Hamburger Newcomerin Bedroom June verwebt auf „Distractet By You“ poetischen Indie-Rock mit einer hörbaren Freude am Experimentieren und an elektronischen Störmomenten, während die schottische Pop-Sensation Bow Anderson ihrer Mutter mit „1983“ eine euphorische Feier der Jugend widmet – was bei ihr kein Widerspruch ist. Bei dem Kürzel „IDGAF“ denken die meisten wohl, dass es für „I Don‘t Give A Fuck“ steht: Mir ist alles egal. Newcomerin Maiva widmet sich in ihrem neuen Song „Unegal (IDGAF)“ aber der gegenteiligen Bedeutung: „I Do Give A Fuck“.
Blood Orange – Essex Honey

Blood Orange hat sein fünftes Album veröffentlicht und damit ein Werk, was sich zu jenen Alben gesellt, die so alleinstehend und bahnbrechend sind, dass man noch Jahre später darüber sprechen wird. Nordöstlich von London gelegen, wuchs Devonté Hynes, wie Blood Orange bürgerlich heißt, genau nicht in einer der pulsierendsten Städte der Welt, sondern an deren Rand auf. Auf „Essex Honey“ verarbeitet er diese Erfahrung, ebenso wie den Verlust seiner Mutter. Die Tracks auf dem Album fließen zwischen R‘n’B, Indie-Pop, Dancefloor und Funk so, dass man oft nicht merkt, wann ein Track endet und der nächste beginnt. Dann gibt es wiederrum disruptive Cello-Outros, die ganz klare Schnitte in das Album bringen. Wenn die Streicher, Bläser und Tasteninstrumente eine Art Orchester auf „Essex Honey“ bilden, dann gibt es zudem auch einen namenhaften Chor, der sich im Hintergrund den Gesang von Blood Orange unter-stützt. Mit von der Partie sind unter anderem Lorde, Caroline Polachek und Daniel Caesar. Zu-tiefst rührend und melancholisch bringt uns das Album in die verregnete englische Landschaft, durch deren dunkelgraue Regenwolke aber immer wieder vereinzelte warme Sonnenstrahlen blitzen. „Essex Honey“ ist ein Album über Trauer und Erwachsenwerden, das lange nach dem letzten Song noch in den eigenen Gedanken schwingt
Short der Woche zum Buch der Woche: „Dass es uns überhaupt gegeben hat“ von Marco Wanda

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