Empfehlung des Tages: Tocotronic – Nie wieder Krieg
Schön wäre es gewesen, dachte ich heute morgen so, als ich auf dem Weg zum DIFFUS-Büro wieder am Plakat zum Tocotronic-Album „Nie Wieder Krieg“ vorbeilief und den Ukraine-Liveticker noch auf dem Handy-Display hatte. Da liefen dann Headlines wie „Russische Offensive Bodentruppen dringen in Ukraine ein“. Natürlich weiß man, dass der Titel und auch der Song gleichen Namens eher eine Klammer für persönliche Geschichten und innere Kriege sind von Menschen, die am „Kipppunkt ihrer Existenz“ stehen, wie es Dirk von Lowtzow hier sehr schön in unserer Titelstory erklärt:
Er habe damit „diese politische Parole in die Sphäre der Psychologie transferiert“, meinte er. Was im Kontext der Platte und des Songs durchaus aufgeht. In der zweiten Strophe singt Dirk: „Sie sieht vom Balkon herab / An diesem Neujahrstag / An dem das Alte stirbt / Noch nichts geboren wird / Gebete zynisch bleiben / Zieht es durch Kitt und Scheiben / Auf die sie haucht und schreibt: / Nie wieder Krieg“. Der Slogan wird in jedem Refrain fast mantra-mäßig wiederholt, bis sie mit den Worten endet: „Das ist doch nicht so schwer.“ Tja, offensichtlich ist es das doch …
Tocotronic waren sich schon immer der Kraft der Worte bewusst, gerade wenn sie besonders aufgeladen sind. In Berlin sah man schon riesige Plakate mit Slogans wie „Pure Vernunft darf niemals siegen“, „Kapitulation“, „Wie wir leben wollen“ und nun eben „Nie wieder Krieg“ hängen – und auch, wenn sie spezifische Bedeutungen hatten innerhalb der Toco-Alben, so las man sie halt auch immer als einen bewussten Kommentar zur Zeit.
Vor allem „Nie wieder Krieg“ entwickelte für mich diesen Effekt. Die Plakate und auch der Song in meiner Playlist waren für mich wie eine Stolperfalle, schon bevor die Situation und vor allem Putin eskalierte. Ich dachte mir so: „Hach ja, nie wieder Krieg! Unterschreib ich!“. Vor allem als ehemaliger Tucholsky-Ultra und -Werksausgaben-Durchleser. Der hatte schon 1921 unter seinem Pseudonyme Ignaz Wrobel in „Schwarz-weiß-rote-Erinnerung“ geschrieben: „Aber wenn wir nicht mehr wollen –: dann gibt es nie wieder Krieg –!“
Aber genau damit bog mein Gedankengang dann in die unschönere Richtung ab: Denn als wohlgenährter, weißer Berliner Bildungsbürger in einem zurzeit relativ offenen, friedlichen Land ist es eben leicht, für den kleinen Gutmensch-Schauer auf dem Weg zur Arbeit mal eben „Nie wieder Krieg“ zu denken, dem Plakat zuzunicken und diese Line im Kopf fett und feierlich zu unterschreiben. Was dann zur Frage führte, was denn diese vermeintliche Unterstützung eigentlich bedeutet. Spätestens hier müssten sich viele wie ich ertappt fühlen. Denn natürlich dürften die meisten gegen einen Krieg sein, aber wir blenden ja alle täglich gleich mehrere Kriege aus. Zum Beispiel den in der Ostukraine, den man eben schon vor Putins Angriff so nennen musste. Oder den Krieg in Afghanistan und seine Folgen. Oder selbst die Drogenkriegen zwischen konkurrierenden Kartellen in Lateinamerika und selbst in den Niederlanden, an den all die friedliebenden, Fair-Trade-kaufenden Party-Folks der Stadt garantiert auch nie denken, wenn sie am Wochenende in einem linken Club eine Line ballern.
Man verzeihe den Zynismus. Der kommt halt durch, zieht „durch Kitt und Scheiben“, wenn ich mich ertappt fühle. Deshalb haben wir heute in der Redaktion beschlossen, euch diesen Song ans Herz zu legen, um mal zu schauen, was er im aktuellen Kontext so in euch auslöst. Auf eigene Gefahr natürlich…
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