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Maryam.fyi über die Revolution im Iran: Call them by their name – IRGC Terrorists

Posted in: Kolumne
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Es ist Montag, der 16. Januar. Der sogenannte “Blue Monday”, der wohl so heißt, weil er der traurigste aller Montage im Jahr sein soll. Und tatsächlich – unter Iraner:innen im Ausland ist gerade unklar, welcher wirklich der traurigste aller Tage ist. Heute zumindest ist ein großer Tag: In Straßburg vor dem Europaparlament findet eine große länderübergreifende Protestveranstaltung mit Abgeordneten aus verschiedenen EU-Mitgliedsstaaten zu den Protesten im Iran statt. Klare Forderung der Protestierenden: Die IRGC, die Revolutionsgarden des islamischen Regimes, sollen auf die EU-Terrorliste. Was den Regierungen der EU noch fehlt, um die IRGC geschlossen als solche zu listen? Fragen wir uns auch alle.

Und was passiert gerade im Iran?

Die Proteste gehen weiter. Das Internet ist langsam, es ist stark gedrosselt. In weiten Teilen des Landes liegt Schnee. In Städten wie Quchan (Razavi-Chorasan), einer Stadt im Nordosten des Landes mit knapp 100.000 Einwohner:innen, wurde gestern das Gas abgestellt. Die Temperaturen bewegen sich zwischen -5 und -2 Grad Celsius. Quchan ist die Stadt, in der mein Vater geboren und aufgewachsen ist. Die Geschichten, die er mir erzählte von Wintern, in denen meterhoher Schnee vor seiner Haustür und auf den Dächern der Stadt lag, sehe ich bildlich vor meinen Augen. Dass der Iran, das Land mit den zweitgrößten Ölreserven weltweit, trotzdem das Gas abgestellt und die Menschen dort frieren lässt, sodass sie jetzt nachts vor Kälte sterben können, klingt wahnsinnig. 

Innerhalb der letzten zwei Wochen haben, besonders die Menschen im Iran, aber auch wir Beobachtenden im Ausland, schlimme Zeiten durchgestanden. Angelina Jolie posted vor drei Tagen Ausschnitte einer bezeichnenden, schrecklichen Nacht:

In der Nacht vom 8. auf den 9. Januar 2023 schweben Mohammed Ghobadlou und Mohammad Boroughani in unmittelbarer Gefahr der Hinrichtung (die Gefahr hält weiterhin an). Am Abend des 8. November wurde die Nachricht verbreitet, dass die beiden in Einzelhaft verlegt wurden. Das passiert immer dann, wenn Gefangene unmittelbar vor der Vollstreckung ihres Urteils stehen – so zumindest die vorherigen Male. In Konsequenz dieser Nachricht haben sich also Menschen vor dem Gefängnis, in dem beide inhaftiert sind, versammelt. Andere haben mit Autos die Straßen vor dem Rajai-Shahr Gefängnis in Karaj blockiert. Das Ganze habe ich “live” am Handy in meinem Bett mitverfolgt und mit Sorge beobachtet.

Ca. um 1:45 erschien dann auf Instagram bei @1500tasvir ein Post, dass vom Gefängnis aus Schüsse auf die Protestierenden ausgingen. Irgendwann habe ich mich gezwungen, mein Telefon auszuschalten und war erleichtert, als am nächsten Morgen Entwarnung gegeben wurde: Die Vollstreckung hatte wohl nicht stattgefunden. Die Bilder von Mohammed Ghobadlous weinender Mutter bahnten sich dann langsam ihren Weg durchs Netz. 

Anders war es, als Mohammad Mehdi Karami und Mohammad Seyed Hosseini hingerichtet wurden. Diese Dinge geschehen wohl immer mit dem Sonnenaufgang, so lehren es die Geschehnisse. Mit dem ersten Ruf des Muezzins vom Turm der Moschee aus, der die Gläubigen zum ersten Gebet ruft und unvermeidbar einige weitere Schlafende weckt, hängen sie die Unschuldigen an Baukränen auf. Es ist eine andere, perfide Art der Konditionierung. Am frühen Morgen, mit dem ersten Sonnenstrahl, mit dem neuen Tag, der unmittelbar erste Gedanke: „Bringen Sie wieder welche von uns um? Wer verliert heute seinen Sohn, seinen Bruder, wer verliert seine Zukunft?”

Nachdem Mohammad Karami und Mohammad Seyed Hosseini hingerichtet worden waren, sind die Worte von Mohammad Seyed Hosseini um die Welt gegangen. Sie waren übermittelt worden und wurden dann ins Deutsche übersetzt. Mohammad war alleine. Er hatte keine Familie. Das sind seine letzten Worte an unsere Welt: 

Hallo, an alle Menschen der Welt. Ich bin Mohammad Hosseini, ein Gefangener in einem der gefürchteten Gefängnisse der iranischen Regierung. Ein Mann, der niemanden hatte, keine Mutter, keinen Vater oder eine Familie, welcher aber ein Freund aller Güte dieser Welt war. 

Nach Tagen und Nächten des Widerstands unter schwerer Folter zwangen sie mich, die Lüge zu gestehen, die sie hören wollten und das Verbrechen zu bekennen, das ich nicht begangen hatte. 

In der Dämmerung des morgigen Tages, am Fuße des Galgens, werde ich ein letztes Mal gen Himmel blicken, den letzten Stern sehen und mit meiner ganzen Kraft „Frau, Leben, Freiheit“ schreien. Ich werde schreien im Namen der Gerechtigkeit und in der Hoffnung auf eine Welt ohne Gewalt, eine Welt, die die Natur liebt und die für alle Kinder der Welt sicher ist. 

Für mich, der sein gesamtes Leben lang zutiefst einsam war, in einem Land, in dem arbeitende Kinder keine Gerechtigkeit erfahren haben, ist mein einziger Wunsch, dass die Welt ein Ort ist, an dem alle Kinder Kinder sein können und die Liebe zu Menschen und zur Natur verinnerlichen, sowie alle Geschöpfe dieses schönen Daseins lieben. 

Und für all diese Liebe, die alles ist, was ich nach diesem kurzen, schmerzhaften Leben noch besitze, schrie ich auf den Straßen, um an der Seite der Studierenden meines Landes zu stehen, die unter Schlagstöcken und Kriegsgeschossen waren und Frau, Leben, Freiheit riefen. 

Kinder, die jahrelang dazu gezwungen wurden und nichts anderes konnten, als der ganzen Welt den Tod zu wünschen, die aber jetzt die Botschafter der Liebe und Güte, der Freiheit und Gleichheit für alle Menschen sind, mit der Sehnsucht nach Frieden, mit der Sehnsucht nach einer gewaltfreien Heimat und Welt. 

Dies sind nicht die Worte eines jungen Mannes, der sich nach Erlösung sehnt. Dies sind die Worte eines einsamen Kinderarbeiters aus den dunklen Tiefen der Geschichte eines von Grausamkeit und Gewalt gegeißelten Landes. Der in all den schwarzen Nächten seiner Kindheit die Natur umarmte, anstelle einer Mutter oder eines Vaters. Und der sich schwor, mit all seinen Mitteln und Möglichkeiten nach Freiheit, Gerechtigkeit und Liebe zu schreien. 

Ich wollte sagen, dass ich für die Freiheit der Frauen meines Landes mein Leben geben werde. Und wisset, wenn mein Körper eine Fahne im feurigen Sonnenaufgangswind geworden ist, dass ein Mann beim letzten Atemzug rief: Es lebe die Liebe, es lebe die Freiheit, es leben alle Völker der Welt. 

Übersetzung von Noosh Fit (IG: @nooshynoosh)

Seither gehen die Menschen an sein Grab. Die Eltern des anderen Ermordeten, Mohammad Karimi, pflegen von nun an zwei Gräber. Mohammad ist der Bruder, der Sohn, die Familie aller Iraner:innen geworden und sein Tod soll nicht umsonst gewesen sein. 

Bitte: Werdet nicht müde. Der Winter ist bald vorüber, das Licht kommt mit jedem Tag zurück, so lange halten wir noch durch und demonstrieren zusammen weiter. Für Mohammad, für Jhina, für Nika. Für alle, die die Freiheit nicht erleben durften. 

Be omide azadi.

Hier gelangt ihr zu einer Sendung, die ich für FluxFM zusammengestellt habe, mit meinen Lieblingsliedern drin: FluxFM Ohrspiel mit Maryam.fyi

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