Maryam.fyi über die Revolution im Iran: Das Jahr der Freiheit beginnt jetzt – Sale no mobarak
„Noruz“ bedeutet übersetzt „Ein Neuer Tag“. So nennt man das persische Neujahrsfest. Eine Tradition, die aus zarathustrischem Brauch hervorgeht und die in weit mehr Ländern als nur dem Iran bewahrt wird. Heute, am 20. März um 22:24 Uhr, zur Tag-und Nachtgleiche beginnt im altpersischen Kalender das Jahr 1402.
Festliches Beisammensein
Normalerweise wäre mir jetzt nach feiern zumute. Schon letzte Woche haben die Feiertage angefangen. Zu „Chahar-shanbe Suri“, dem letzten Mittwoch des Jahres, sind die Menschen im Iran übers Feuer gesprungen und haben sich von den schlechten Dingen des Jahres verabschiedet. Ja, tatsächlich. Mein Feed war voller Videos, auf denen die Menschen auf den Straßen im Iran ihre Kopftücher ins Feuer geworfen haben, an den Feuern tanzten und feierten und darüber sprangen. Das sind die Bilder, die Hoffnung bringen. Hoffnung und Angst zugleich.
Zu Noruz zieht man sich schön an und trägt neue Kleidung – so gibt es der Brauch vor. Schon Tage zuvor wird der „Sofreh Haft Sin“ vorbereitet. Das ist ein geschmückter Tisch mit sieben Dingen, die mit „S“ beginnen und die alle eine Bedeutung für neues Leben tragen. Noruz wird mit der Familie gefeiert und man isst festlich zusammen. Bei uns wurde danach oft getanzt und die Kinder wurden mit kleinen Geldbeträgen beschenkt, die von „Amu Noruz“ (Onkel Noruz) kamen. In diesem Jahr kann ich leider nicht bei meiner Familie sein.
Die Macht von Social Media
In den letzten Wochen ist wieder sehr viel passiert. Angefangen damit, dass Apotheker aus Solidarität mit ihren Kolleginnen, die weiterhin zum Kopftuch am Arbeitsplatz gezwungen werden, jetzt ebenfalls im Kopftuch zur Arbeit erscheinen. Es ist fast schon makaber, darüber zu lachen, aber es ist schön zu sehen, wie hier Zusammenhalt gelebt wird.
Vor ungefähr einer Woche haben fünf junge Frauen ein Video hochgeladen, in dem sie zum TikTok Trend des Songs „Calm Down“ von Rema tanzen. Innerhalb eines Tages haben dieselben Behörden, die sich noch immer nicht erklären können, woher das Giftgas in den Mädchenschulen ihres Landes stammt, es geschafft, diese fünf unschuldigen Mädchen zu finden und zu verhaften – und sie zu einem Geständnis vor der Kamera – mit Kopftuch an – zu zwingen. Die Konsequenz daraus? Das Video der Mädchen geht noch mehr viral. Auf der ganzen Welt wird zu „Calm Down“ getanzt, Rema, Selena Gomez, Angelina Jolie teilen die Tweets zu den „Girls of Ekbatan“.
Inzwischen geht die Revolution schon sechs Monate lang und über 530 Menschen sind bisher in den Protesten gestorben. Ein Beispiel: Am 16. September 2022 ist Jina Mahsa Amini an ihren Verletzungen durch die Sittenpolizei letzten Endes verstorben. Das Ganze wurde jetzt noch einmal journalistisch durch The Times aufgearbeitet. Das ganze könnt ihr hier nochmal nachlesen. Eine Triggerwarnung möchte ich hier jedoch noch aussprechen. Ich spreche sie aus und denke gleichzeitig darüber nach, ob die Menschen im Iran in ihren sozialen Netzwerken auch Triggerwarnungen verwenden.
Wo wir schon bei Stars und Triggerwarnungen sind: Angelina Jolie hat einen Bericht von Amnesty International geteilt, der von Folter und Verhören von Jugendlichen im Iran berichtet. Ich küsse dafür ihre Augen.
Das Internet und die Revolution
Das Internet und die Revolution und die Zusammenhänge dazwischen sind irgendwie so absurd. Einerseits möchte ein Regime ein ganzes Volk von der restlichen Welt abschirmen und zeigt im Staatsfernsehen stets falsche Bilder und Lügen. Andererseits ist ihr Oberhaupt auf Instagram erst kürzlich verifiziert worden (obwohl weit bekannt ist, dass er ein Mörder ist) und sobald etwas viral geht, treten die Konsequenzen postwendend in Kraft. Also müssen die Behörden sich ja genauso auf den – ja eigentlich verbotenen – sozialen Medien herumtreiben, oder?
So auch in diesem Fall: Die Journalistin und Aktivistin Sepideh Gholian war für vier Jahre und sieben Monate im Evin-Gefängnis in Teheran festgehalten worden und durfte dieses erst Ende letzter Woche verlassen. Unvergleichbar mutig rief sie noch auf dem Gefängnis-Gelände „Khamenei, wir bringen dich unter den Sand!“. Das Video ihrer Freilassung ging direkt ins Netz. Doch einige Stunden später folgte dann diese Meldung: Ihr Auto wurde von mehreren Sondereinheiten angefahren und sie befindet sich bereits wieder im Evin-Gefängnis. Und zwar im Trakt 209, in Einzelhaft. Gerade einmal sechs Stunden lang war Sepideh in Freiheit und wurde dem Regime als Bedrohung schon zu groß. Es schaudert mich bei diesen Gedanken.
Taktik und Boshaftigkeit
Die Geschehnisse sind grauenvoll., doch man muss sich vor Augen führen, dass angesichts der Dauer der Proteste und aller bekannten Brutalitäten dieses Regimes noch „relativ” wenige Massaker begangen wurden – und ich möchte mir anmaßen, dass das auch an uns liegt. Dass das auch an dem steten Aufschrei der Zivilbevölkerung im Ausland liegt, an den großen Demonstrationen und dem Gegenwind im Volke, den das Regime schlicht und einfach fürchtet – zurecht.
In diesem Fall jedoch haben sie letzte Woche am 16. März, am selben Tag, an dem sich der Völkermord an der kurdischen Stadt Halabja im Irak jährt, gnadenlos gemordet. So wurden im Morgengrauen insgesamt sieben Menschen unschuldig im Gefängnis von Urmia erhängt. Einer von ihnen, Mohyeddin Ebrahimi war ein 43 Jahre alter kurdischer Mann. Er war ein Lastenträger, das heißt, er transportierte Lasten auf seinem Rücken von A nach B. Mohyeddin war außerdem Vater eines behinderten Kindes und wurde mit der Beschuldigung, einer demokratischen Partei zugehörig zu sein, 2018 festgenommen.
Sieben Menschen, die keine Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit, den Schutz durch unseren Aufschrei hatten, wurden einfach hingerichtet. Ohne rechtliche Grundlage oder Verfahren. Aus Taktik und Boshaftigkeit. Und noch immer stehen die Revolutionsgarden nicht geschlossen auf der Terrorliste der Europäischen Union (und werden es wohl auch niemals).
Heute nicht bei meiner Familie zu sein, schmerzt besonders. Dieses Jahr ist alles etwas anders. Die Verbundenheit zu meiner Kultur hat sich verändert. Se wird stärker mit jedem Tag und dafür bin ich sehr dankbar.
Schaut euch zum Schluss gern noch dieses wunderschöne Video bei Nowness an, erschaffen von der Filmemacherin Naghmeh Pour. „Iran-e Man” bedeutet übersetzt „Mein Iran.
Das Jahr des Neuanfangs beginnt heute und dafür wünsche ich uns allen viel Energie, dass wir nicht müde werden, unsere Schwestern und Brüder zu unterstützen. Ich wünsche ihnen besonders, dass sie nicht aufgeben – auch wenn ich bereits weiß, dass sie es nicht tun werden. Das Jahr der Freiheit beginnt jetzt erst. Sale no mobarak.
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