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Maryam.fyi über die Revolution im Iran: Der Sprung über die Flagge

Posted in: Kolumne

Heute ist ein grauer Mittwochmorgen. Jedes Mal, wenn ich das Haus verlasse, wundere ich mich, dass es viel wärmer ist, als sich alles um mich herum anfühlt, auch, wenn ich Siri mindestens zweimal vorher nach dem Wetter in Berlin gefragt habe. Der Himmel, die News, die ich stetig konsumiere, alles lässt mich frieren. Umso glücklicher machen mich dann ein paar Schritte durch herbstliche Straßen, in denen ich kurz mal nicht das Handy in der Hand halte und neue Schrecklichkeiten aufnehme. 

Wäre mein Leben anders?

Am 3. November letzten Jahres kam die erste Episode dieser Kolumne raus. Ich bin ehrlich mit euch, die Gefühle, die im letzten Herbst und Winter durch und in mich gekrochen sind, waren zu dem Zeitpunkt neu und überwältigend. Mittlerweile hat sich ein gewisser Status quo dieser Emotionen breitgemacht. Ein Privileg eigentlich, erst so spät in meinem Leben mit so viel Schmerz konfrontiert zu werden, sage ich mir immer wieder. Wer wäre ich geworden, wäre ich früher mit dem ganzen Leid so nah in Verbindung getreten? Wären meine Witze dann bitter? Und wie geht es denjenigen, die nicht bloß übers Internet, sondern am eigenen Leib durch den Schmerz gehen? Unvorstellbar. 

Fragen, die ich mir stellen kann, weil ich hier in Deutschland aufgewachsen bin und keine allzu offensichtliche äußerliche Markierung als „Ausländerin” trage. Fühlen sich alle gleich, wenn sie Leid um sich herum bemerken und diesem zusehen müssen? Ich weiß es nicht. 

Wenn ich in Räume komme, in denen nur weiße Personen anwesend sind (es passiert öfter, als man denken würde), fühlt es sich immer wieder so an, als würden die Konversationen und das Klima dort anders verlaufen, als wenn ich von POCs, Menschen mit Migrations- und Fluchtgeschichten umgeben bin. Es fühlt sich an, als wären die Konversationen in „weißen Räumen“ unbefangener und weniger vom Schmerz dieser Zeit betroffen. Ein wenig neidvoll muss ich mich zusammenreißen, nicht abends in einer Bar mit den Leuten vom Influencer:innen-Event noch darüber zu reden, wie schlecht ich gerade schlafe, weil ich ständig die Bilder aus dem Iran, Kurdistan, Gaza und den ganzen anderen menschengemachten Katastrophen in meinem Kopf sehe. Weil ich daran denke, dass Freund:innen Polizeigewalt erfahren, wenn sie öffentlich trauern und andere Angst in ihren Häusern haben, weil sie Juden und wieder einmal in Deutschland bedroht sind.

Gerade spielt mein Speaker das neue Album von Sampha ab und der Kaffee, den ich trinke, ist noch warm. Der Hals kratzt mir ein bisschen, es ist Herbst. Guten Morgen. 

Dein Name wird nicht vergessen werden

Am Montag lese ich im Internet zum ersten Mal vom bestätigten Hirntod Armita Garavand. Welche Grausamkeiten muss sie erfahren haben? Welchen Schrecken müssen ihre Eltern, ihre Familie, Freunde, das ganze Volk Irans noch erleiden? Ich wünsche diesen Menschen vor allem Mut und Energie. Mögest du Frieden finden, Armita. Dein Name wird nicht vergessen werden. 

Als sei es ironisch gemeint, werden gerade im Anschluss an Armitas Tod die beiden Journalistinnen, die zuallererst über Jina Amini berichtet haben, Niloofar Hamedi und Elaheh Mohammadi zu sieben und sechs Jahren Haftstrafe verurteilt. Weil sie ihre Arbeit getan und journalistisch gearbeitet haben. 

Auch der Mord an Filmmacher Dariush Mehrjui und seiner Frau am 14. Oktober in Karaj sollte uns nicht kaltlassen. Mehrjui war dem Iranischen Regime ein großer Dorn im Auge. Er hatte nachdem seine Arbeit „La Minor” 2022 im Land zensiert worden war, eine Videobotschaft veröffentlicht, in der er sich ans Regime richtete mit den Worten: „Kommt und tötet mich!”

Geschichten müssen erzählt werden

Manchmal vergisst man, wie eng unsere Freiheit mit der Unterdrückung und dem Horror, den die Menschen im Iran und in Kurdistan durchleben, verwoben sind. Kayvan Samadi ist Kurde, ein junger Medizinstudent, der im letzten Herbst Menschen versorgt hat, die auf der Straße bei den Protesten verletzt wurden. Daraufhin wurde er festgenommen, verschleppt an einen unbekannten Ort und gefoltert. Der Nachrichtensender CNN hat einen Beitrag über Keyvans Geschichte veröffentlicht.

Mittlerweile hat Keyvan es geschafft, nach Deutschland, genauer gesagt Hamburg, zu fliehen. Letzte Woche wurde Keyvan dann bei einem Behördengang auf die Ausländerbehörde sofort festgenommen, von den Behörden so grob behandelt, dass er sein Handgelenk verletzte, ohne Weiteres nach Frankreich ausgewiesen und in einem Dorf ausgesetzt. Die ganze Geschichte erzählt Keyvan selber in diesem Video:

Mittlerweile wurde er von Aktivist:innen aus Deutschland und durch Aufrufe auf Instagram unterstützt mit einer Unterkunft und einem Moneypool. Wie es weitergeht, ist bis auf weiteres unklar. Keyvans Bruder wohnt ebenfalls in Hamburg. Was ich sagen will, ist wieder mal: Wir können etwas bewegen, müssen es bloß tun. Der Moneypool ist weiterhin offen. 

Während wir uns im Internet verlieren und zerstreiten, nutzen die Schurken dieser Welt unser Schweigen und die Hilflosigkeit und bringen weiterhin Kurd:innen in Rojava um. In ihrem Newsletter „What Happened Last Week” berichtet die kurdische Journalistin Sham Jaff jede Woche über die aktuellsten Geschehnisse, die unsere eurozentrischen Medien nicht unbedingt abdecken. Auch ihr Instagram Kanal lohnt sich sehr.

Der Sprung über die Flagge

Zum Schluss will ich euch noch erzählen, was es heute mit der Grafik, die wieder von @denakah_art kommt, auf sich hat. Die Journalistin und Iranerin Natalie Amiri hat vor kurzem ein Bild gepostet, auf dem man sieht, wie ein Mädchen über die Israel Flagge auf dem Boden springt. Der Hintergrund? Iranische Behörden sprayen Israel Flaggen auf den Boden, damit die Menschen gezwungenermaßen drüber laufen, quasi „den Feind mit Füßen treten”. Die Zivilgesellschaft wird instrumentalisiert und mit Propaganda vergiftet, aber sie lassen das nicht weiter zu. So wie auf diesem Foto: Die Menschen wissen, dass sie für falsche Zwecke missbraucht werden und springen demonstrativ über die Flagge, zeigen, dass sie dem Regime nicht gehorchen oder gehören.  

Gute Gefühle und böse Gefühle

Mein Gefühl ist in letzter Zeit, dass wir fern von allem Leid, viel mehr böse Gefühle und Seiten beziehen, als irgendjemand, der wirklich vom Leid betroffen ist. Es fühlt sich an, als würden die Menschen, wenn sie wirklich um ihr Leben fürchten, zusammenhalten und zusammenwachsen, während wir uns aus der Ferne echauffieren und gegenseitig anprangern, denunzieren und canceln, statt empathisch zu sein mit allen Menschen, nach Lösungen zu suchen und versuchen, zu helfen. Hoffentlich irre ich.

Jetzt, so fühle ich mich momentan mehr und mehr, ist wohl der Zeitpunkt gekommen, an dem wir selber politisch aktiv sein müssen. Für unsere Gesellschaft und weiteres Zusammenleben Verantwortung übernehmen und uns organisieren sollten. Uns weiterbilden und zusammenhalten, an uns glauben, statt frustriert wegzuschauen. 

Deshalb zum Schluss noch ein Veranstaltungstipp von mir noch: Das Womanlifefreedom-Kollektiv aus Berlin veranstaltet am Wochenende eine Konferenz „How to Revolution”, die offen zugänglich für alle ist und kostenlos. 

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Titelstory: SSIO

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