What’s Poppin? Höhen, Tiefen & virale Momente: So war das Rap-Jahr 2022
Das Jahr 2022 neigt sich dem Ende zu und will rekapituliert werden. Dabei waren die letzten 356 Tage auch im internationalen Rap-Geschäft ereignisreich, brachten einige Höhen und Tiefen mit sich, neue Trends und Entwicklungen, alte Helden, die in Ungnade gefallen sind und junge Gesichter, die die Szene bereichern. Für die letzte Ausgabe von „What’s Poppin?“ in diesem Jahr möchte ich also einen Blick zurück werfen auf die Higlights und Lowlights des Jahres, aber nebenbei auch schon auf das nächste Jahr schielen und spekulieren, was uns 2023 erwartet.
Lowlights
Ye: Musiker, Unternehmer und Verschwörungstheoretiker
Bringen wir zu Beginn die leidigen Themen hinter uns. Wenn ich ein Wort bei den größten Enttäuschungen 2022 immer wieder lesen musste, dann war das wohl folgendes: „Kanye“. Und auch mich hat der Rap-Mogul turned Unternehmer turned Verschwörungstheoretiker dieses Jahr frustriert. Denn es gab quasi keinen Zeitpunkt, an dem Ye nicht wegen irgendwelcher Kontroversen in der Öffentlichkeit stand. Das fing schon mit seinem Cybermobbing gegen Pete Davidson und dem öffentlich ausgetragenen Rosenkrieg mit Kim Kardashian an, setzte sich fort im dramatischen Bruch mit Kollaborationspartnern wie Adidas und Gap und endete nun fatal mit einem „White Lives Matter“-Shirt und antisemitischer Hetze. Ye hat hier selbst für seine Verhältnisse einige Grenzen überschritten, über die es so schnell kein zurück kommen gibt. Ich bin gespannt, ob er hier an irgendeinem Punkt zur Einsicht kommt – es würde mich ehrlich gesagt überraschen.
„Honestly, Nevermind“ – Die Schlaftablette in Drakes Diskographie
Der Flopp des Jahres geht 2022 wohl an Drake. Dabei hat der Kanadier vor wenigen Wochen gemeinsam mit 21 Savage in Form von „Her Loss“ ein solides Album veröffentlicht, das durchweg unterhält. „Her Loss“ ist allerdings auch nicht das Problem, sondern der Vorgänger „Honestly, Nevermind“, den er im Juni in einer Nacht- und Nebelaktion veröffentlichte. Damals war die Aufregung groß, Drakes Ausflug Richtung Dancefloor, House und Techno war kurios und sorgte für Gesprächsstoff. Nun da der Staub sich gesetzt hat, kann man sagen: Trotz einiger interessanter Ansätze ist „Honestly, Nevermind“ die Schlaftablette in der Diskographie des Hitmakers und hat entsprechend auch kommerziell unterperformt. Das sage ich, obwohl ich schon immer einen Sweet Spot für Drizzy hatte, aber vielleicht ist der Zenit langsam auch einfach überschritten.
America’s Favorite Boyband ist Geschichte
Das Rap-Ereignis, das mir persönlich wohl am meisten nahe geht, ist die Trennung von Brockhampton. Als Kevin Abstract 2012 auf einem Kanye-Forum naiv postete „Anyone wanna make a band?“, hätte er vermutlich nicht mal selbst die Konsequenzen erahnen können, die diese Frage mit sich bringen sollte. Fast genau zehn Jahre hat das Rap-Kollektiv nun existiert und dem Rap-Game in dieser Zeit eine dringend benötigte Portion DIY-Kreativität eingeflößt.
Dabei war der Ritt stets ein turbulenter: 2017 veröffentlichte die Band innerhalb von nur einem Jahr ihre „Saturation“-Album-Trilogie, kurz darauf trat Ameer Vann aus und hinterließ ein gespaltenes Kollektiv. Man kann nur mutmaßen, aber es schien mir immer so, als hätte sich die Band von diesem Bruch nie ganz erholt. Mit „The Family“ erschien nun vor kurzem unter dem Brockhampton-Banner ein letztes abschließendes Album vor dem endgültigen Aus – ein Ego-Trip von Kevin Abstract, der tiefe Einblicke gewährt und statt einem sauberen Schlusspunkt einen Tintenklecks hinterlässt, ganz großes Kino. Mein einziger Trost, während ich zum letzten Mal auf meinen Merch warte: Mir ausmalen, was für großartige Solo-Karrieren uns in Zukunft hoffentlich erwarten.
Highlights
An Kendrick führt kein Weg vorbei
Natürlich gab es auch für mich in diesem Jahr kein Herumkommen um Kendrick Lamar und „Mr. Morale & The Big Steppers“. Aber das ist völlig okay, denn: Wie verdammt gut diese Platte ist, ist längst Konsens und dem kann ich mich nur anschließen. Tatsächlich ist es für mich als Laie in Sachen K-Dot vielleicht sogar – Achtung, Hot Take – mein Lieblingsalbum von ihm. „Mr. Morale & The Big Steppers“ hat mit „N95“ und „Silent Hill“ seine zugänglichen Momente, nur um uns im nächsten Moment mit Stücken wie dem kontroversen „Auntie Diaries“ oder „We Cry Together“ zu konfrontieren. Und auch abseits von einzelnen Highlights glänzt „Mr. Morale…“ mit wiederkehrenden Elementen und einem spannenden Aufbau und erinnert einen immer wieder daran, wie wichtig es ist, Alben am Stück zu hören.
J.I.D, Smino & Little Simz: Junge Talente rücken nach
Fast noch schöner als ein Meisterwerk von einem alten Hasen wie Kendrick: Ähnliche Glanzleistungen von aufstrebenden Rapper:innen aus der nächsten Generation. Die Liste ist hier erfreulicherweise sehr lang. Smino, Little Simz und Loyle Carner haben allesamt zum Ende des Jahres beeindruckende Projekte auf Albumlänge veröffentlicht. Etwas früher dran waren JID, Denzel Curry und Mavi, allesamt aufstrebende Rapper, die sich ein Vermächtnis aufbauen wollen und in diesem Jahr mit ihren jeweiligen Alben wichtige Bausteine dafür gesetzt haben.
Pushin Poland
Das Jahr 2022 brachte neben ausgeklügelten Alben auch viele virale Momente und – zumeist kurzlebige – Hypes mit sich. Da wäre das Meme rund um „Pushin P“ von Gunna, das im Januar die Runde machte und heute schon beinahe in Vergessenheit geraten ist. Einiges an Buzz gab es außerdem für die Newcomerin Ice Spice. Ihr selbstbewusster Drill-Song „Munch (Feelin’ U)“ brachte ihr einen ersten Hit und Support von Drake ein, nun muss die Rapperin aus der Bronx beweisen, dass sie gekommen ist, um zu bleiben.
Mein Highlight in Sachen Viralität geht allerdings ganz klar an Lil Yachty und „Poland“. An Stimmbearbeitung mit Auto-Tune hat sich im Jahr 2022 wohl auch der letzte Realkeeper langsam gewöhnt, aber wie Lil Yachty hier mit seiner Stimme herum eiert, ist dann doch etwas kurios – und gerade deshalb unglaublich eingängig. An der Stelle ein kleiner Aufruf: Sollte Lil Yachty irgendwann mal eine Show in Polen spielen, möchte ich, dass wir Shuttlebusse organisieren und da alle hin pilgern (natürlich ohne WoOoooOoOOk).
Trends
Rap wird britischer
Obwohl diese Ausgabe von „What’s Poppin?“ vor allem ein Rückblick ist, möchte ich auch ein wenig spekulieren, was uns im nächsten Jahr an neuen Entwicklungen erwartet. Eine Tendenz, die sich schon seit einiger Zeit abzeichnet: Rap wird britischer. Wenn ein Song diese These veranschaulicht, dann vermutlich „Doja“ von Central Cee. Mit kontroversen Lines in TikTok-Länge hat es der junge West-Londoner zu beinahe 300 Millionen Streams und globaler Bekanntheit gebracht. Und auch wenn der Rest der britischen Szene von solchen Zahlen nur träumen kann, finden auch Rapper wie Headie One, Aitch und Digga D durch smartes Networking zunehmend internationalen Anschluss.
Scheinwerferlicht auf New Jersey
Die Drill-Welle, die ja auch in UK ihren Ursprung hatte, verebbt langsam und wird als etablierte Stilrichtung im großen Rap-Kanon aufgenommen. Ähnlich ergeht es dem Detroit-/Michigan-/Flint-Rap, dessen Einflüsse immer wieder auftauchen, aber längst nicht mehr so präsent sind wie im letzten Jahr. Stattdessen bauschen sich neue Trends auf und ziehen die Aufmerksamkeit von Fans, aber auch Szeneakteuren auf sich. Das größte Potenzial sehe ich hier für 2023 bei Jersey Club. Das nischige Genre war bisher irgendwo zwischen House und Hip-Hop in den Clubs der Eastcoast verortet, nun setzt es dank Songs wie „I Just Wanna Rock“ von Lil Uzi Vert oder „Sticky“ von Drake zum Höhenflug an.
Der Hyperpop-Hype greift um sich – auch im Rap
Parallel dazu sehen wir anhand von Künstlern wie Bladee, Brakence und midwxst, wie sich Hip-Hop-Musik zunehmend neuen Bewegungen wie dem Hyperpop annähert und damit verschmilzt. Überhaupt ist Hyperpop sehr gut dafür geeignet, andere Genres für sich zu vereinnahmen – sogar der aufkommende Jersey-Hype wird hier durch Musikschaffende wie Skaiwater bereits abgebildet. Die perfekten Bedingungen für den Vorstoß in die Rap-Welt haben hier schon im vergangenen Jahr Künstler wie Trippie Redd, Playboi Carti und Yeat mit ihrem elektronisch geprägten Rage Rap gestellt. Die euphorischen Synthesizer von „Miss The Rage“ und das psychedelische Gebrabbel von Yeat haben es bereits angekündigt: Genregrenzen sind ein Ding der Vergangenheit – 2023 mehr denn je zuvor.
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