„Alle haben Angst vor Lindemann“? Nö. Eher Verachtung für Rammstein.
Bevor wir mal wieder ins unschöne Musikjournalismus-Fach „Alte Helden beerdigen“ absteigen, das wichtigste vorweg: Riesen-Respekt und Solidarität für alle Frauen, die ihre Erfahrungen in dieser Sache öffentlich geteilt haben. Es gilt die Unschuldsvermutung, ja ja, man muss sehen, was justiziabel oder überhaupt belegbar ist – aber eines ist mal wieder klar: Frauen wie Shelby Lynn und Kayla Shyx sind gottverdammte Heldinnen. Sie haben sich in die Öffentlichkeit gestellt und ein System im Umgang mit jungen, weiblichen Fans offengelegt, das – selbst, wenn es nicht strafbar sein sollte – zumindest räudig ist. Der Dank dafür? Respekt von vielen Menschen – aber eben auch übergriffige Tweets, YouTube-Kommentare, geballte Misogynie, Beleidigungen. Und eine Rammstein-Maschine, die läuft wie geschmiert …
Man weiß ja gar nicht, wo man beim Thema Rammstein gerade anfangen soll. Vielleicht hier: Ich fand die Band selbst über Jahre faszinierend, war sogar auf den Touren in den 90ern dabei, habe sie in Clubs in Orten wie Herford im Kick oder Nortrup im Fiz Oblon gesehen. Ich habe Flakes Bücher verschlungen, seine RadioEins-Show gerne gehört, viele Texte über Rammstein und ihre Provokationen geschrieben. Ich habe ihnen dabei, vor allem auch wegen Charakteren wie Flake und seinen früheren Bands, immer unterstellt, ein brachial-ironisches Abbild von testosteron-verseuchter Deutschtümelei zu sein. Ich habe die abgründigen Texte ähnlich verschämt konsumiert, wie die vielen – auch nicht gerade moralisch vertretbaren – Skandalliteratur-Bücher, die ich im Regal stehen habe. Zugegeben: Die Alben habe ich mir seit „Sehnsucht“ dann auch nicht mehr gekauft, obwohl mir immer einzelne Songs gefallen haben. Aber hätte nicht meine Mutter am Tag des Rammstein-Berlin-Konzerts 2019 ihren runden Geburtstag gefeiert, hätte ich dort auf der Gästeliste gestanden. Beim letzten Rammstein-Konzert meines Lebens zu ihrem Best-of-Album fühlte ich mich perfekt unterhalten – auch, wenn ich nach der Unterhaltung zweier Fans an der Theke sehr schnell, sehr viel Bier trinken musste. Die teilten nämlich meinen Ironie-Verdacht so gar nicht und trugen das „Manche führen, manche folgen“ eher mit todernster Führer-Verehrung. Ich habe außerdem aus der Branche gehört, dass Rammstein gute Arbeitgeber sind, ihre Leute fair bezahlen and so on.
Keine Panik: Das soll hier kein Entschuldigungsschreiben oder die Band reinwaschender Whataboutism werden. Vielmehr eine Klarstellung meiner Position. Ich würde mich heute nicht mehr als Fan bezeichnen, schon vor den Artikeln über die Art und Weise, wie bestimmte Teile einer Rammstein-Show funktionieren. Aber trotzdem ist da eine gewisse Enttäuschung, die mittlerweile in Verachtung umschlägt.
Jede:r muss für sich entscheiden, ob er weiterhin die Musik hört oder auf Shows der Band geht. Aber: Mir „helfen“ bei der Beantwortung dieser Frage ein paar Dinge. Zum einen bleibe ich dabei, was jede neue Anschuldigung und der Umgang damit beweisen: Als Frau denkst du dir traumatische Erlebnisse nicht aus, um Fame zu kriegen. Hat noch nie funktioniert, wird nie funktionieren. Außerdem konnte man schon 2018 in der Süddeutschen Zeitung folgendes zum Thema „Falschanschuldigungen“ lesen: „Wer sich wissenschaftliche Studien und Artikel zum Thema Vergewaltigung und Strafverfolgung anschaut, merkt schnell, wie verzerrt die gesellschaftliche Wahrnehmung ist. Je nach Untersuchung, Land und politischer Weltsicht der Autoren variiert der Anteil der Falschbeschuldigungen an tatsächlich angezeigten Vergewaltigungen zwischen zwei und acht Prozent. Der Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe setzt den Anteil der Falschbeschuldigungen in Deutschland bei drei Prozent an und beruft sich auf eine europaweite Studie zur Strafverfolgung von Vergewaltigung.“ Auch hier – damit wir nicht Post bekommen von Simon Bergmann und Christian Schertz: Dieser Part bezieht sich nicht explizit auf die erhobenen Vorwürfe gegen Till Lindemann. Er soll lediglich das schnell verbreitete Vorurteil in Relation setzen, jemand wolle sich auf dem Rücken eines Rockstars Fame verschaffen. Es gilt natürlich die Unschuldsvermutung und die litauische Polizei hat das Verfahren gegen Lindemann bereits am 23. Juni eingestellt. Was aber – wie die Süddeutsche Zeitung in der heutigen Ausgabe berichtet – nicht angezweifelt und angemahnt wird, ist das System, mit dem Menschen aus dem Rammstein-Umfeld junge Frauen ansprechen und sie zu Aftershow-Partys einladen, die dann manchmal eben nicht die klassische Party-Situation sind. Kann man auch alles hier noch einmal beim Spiegel nachlesen.
Machen wir uns nix vor: Wenn die MeToo-Welle endlich und hoffentlich bald durch die Musikwelt rauscht, werden Rammstein nicht die einzigen sein, die so ein System haben, das ihnen den Zugang zu vermeintlichen Groupies ermöglicht. Aber sie sind nun mal eine der größten Rockbands der Welt und auch wenn sie stets mit dem Bild der bösen Männer kokettieren, leben wir eigentlich in Zeiten, in denen der Großteil der Gesellschaft so ein Verhalten nicht mehr akzeptiert. Obwohl dieses Verhalten in der – überwiegend von Männern erzählten – Rockgeschichte als „Sex, Drugs & Rock’n’Roll“ verkultet wird, muss und sollte man eigentlich erkennen: Da ist nix Kultiges dran. Eher was Trauriges. Was Übergriffiges. Und natürlich für vermeintliche Opfer und Geschädigte was Traumatisierendes. Vor diesem Hintergrund ist es auch nicht besonders provokativ oder kultig oder lustig, was Lindemann bei den bisherigen Berlin-Konzerten in bekannte Songs „eingewoben“ hat. Am Sonntag dichtete er den Song „Ohne Dich“ und änderte die Zeile „Weh mir, oh weh. Und die Vögel singen nicht mehr“ um in: „Und die Sänger vögeln nicht mehr.“ Am Samstag bereits veränderte er die Zeile mit dem „schwarzen Mann“ in „Angst“ folgendermaßen: „Alle haben Angst vor Lindemann.“
Spätestens hier bleibt mir nur noch das kalte Kotzen. Lindemann hat sich bisher nur durch seine Anwälte zur Berichterstattung und den Vorwürfen geäußert. Es gibt außerdem zwei Stellungnahmen im Namen der Gruppe, eine auf Instagram, eine auf Twitter, dazu einen längeren, Post von Schlagzeuger Christoph Schneider auf Instagram, in dem er betont, dass kein Gesetz gebrochen worden sei. Ursprünglich hieß es auch, man wolle eigene Untersuchungen durch eine von der Band eingesetzte Anwaltskanzlei anstellen und zeitnah veröffentlichen, was bisher noch nicht passiert ist. Kurz gesagt: Diese vermeintlichen Witze sind das einzige, was Lindemann in der Öffentlichkeit zur Sachlage von sich gegeben hat. Vermutlich, um die vielen Fans, die sich solidarisch mit der Band zeigen, bei der Stange zu halten. Trotzdem: Diese Sätze sind ein Schlag ins Gesicht für alle, die anonym oder öffentlich ihre Erfahrungen im Umfeld der Band und ihrer Konzerte geteilt haben. Sie zeigen, dass man wie ich entweder die ganze Zeit schon falsch lag mit seiner Ironie-Unterstellung, oder aber, dass Lindemann einfach der eigene Pimmel oder die Kunstfigur zu Kopf gestiegen ist und er irgendwann vergessen hat, dass er ja mal Männlichkeit entlarven oder ironisieren wollte. Außerdem spuckt er mit diesen Sätzen allen ins Gesicht, die vielleicht wirklich treue Fans sind und verunsichert sind von den Geschichten, die man in den letzten Wochen lesen konnte – und die der Band glauben wollen. Aber man muss ihm an dieser Stelle ebenso deutlich widersprechen: Angst haben sicher einige Menschen vor Lindemann – nämlich diejenigen, die sich in unangenehmen Situationen mit ihm wiederfanden. Aber ansonsten kann man vor diesem Mann keine Angst haben. Klar, er könnte mich mit einem linken Haken jederzeit ausknocken. Aber was ist er denn? Eine gefährliche Witzfigur. Ein von der Realität entkoppelter Rammelopa (gerne auch mit fünf rollenden Rs lesen), der auf Frauen in einem Alter steht, die seine Tochter sein könnten – und der sich anscheinend nicht mal mehr die Mühe macht, diese selbst kennenzulernen oder anzusprechen. Ein Mann, um den es augenscheinlich sehr einsam geworden ist, wenn – wie man aus der SZ-Story im Juni weiß – Alena Makeeva vor einigen Jahren eine junge Frau bei Instagram fragte, ob sie mit Lindemann Weihnachten feiern wolle.
Zu guter Letzt hilft mir aber auch wieder das, was mir mit 17 schon klargemacht hat, dass ich nicht mehr zu den Böhse Onkelz gehen will – nämlich die Frage: Mit welchen Mitmenschen möchte ich vor einer Bühne stehen und ein Konzert feiern? Ich finde es falsch, alle Rammstein-Fans in eine Tonne zu stecken. Aber es gibt einen großen, im Internet sehr aktiven Teil, der in Sachen „Verteidigung ihrer Band“ weit übers Ziel hinausschießt. Oft bleibt es nicht beim immer gern zitierten Hinweis auf die Unschuldsvermutung und dem Irrglaube, dass übergriffige Situationen fair vor Gericht verhandelt werden könnten. Oft schreien aus diesen Zeilen Misogynie, Whataboutism, „Wer bei Rammstein backstage geht, weißt doch, was da passiert“ und ein „Humor“, der keiner ist. Und dann gibt es noch die Leute, die den Protestierenden vor dem Olympia-Stadion Boxen entgegenhalten, aus denen „Dicke Titten“ von Rammstein schallt. Und es gibt die Leute, die nun mit extra-stolz-geschwellter Brust ihr Rammstein-Shirt tragen und dabei so süffisant und überlegen lächeln, als trügen sie ein „Fuck Nazis“-T-Shirt in Jamel. Bei allem Verständnis, wenn man seiner Band, die man über Jahre begleitet hat, glauben will – hier geht es um Vorwürfe und Erkenntnisse, die nun wirklich räudig sind und die man zumindest so ernst nehmen sollte, dass man sie nicht nutzt, um sich durch ihre Verleugnung als ein „besserer Fan“ zu fühlen.
Ich habe mich die ganze Zeit gefragt: Muss man(n) eigentlich noch was über das Thema Rammstein schreiben? Aber ich glaube ja: Vielleicht auch nur, um die eigene Enttäuschung zum Ausdruck zu bringen. Über die im Kommentar angesprochenen Dinge. Über Kollegen, die diese Thematik manches mal auf „Ich fand Rammstein schon immer scheiße“-Posts und -Artikel runterbrachen. Über die Branche, die noch nicht viele erkennbare Zeichen von sich gibt, dass sie die Vorwürfe ernst nimmt. Und auch über die internationale Presse, die das Thema bisher kaum aufgegriffen hat – was zur Folge hat, dass Rammstein ihre Tourneen noch eine ganze Weile weiter reiten könnten. Dann vielleicht auch wieder mit vögelnden Sängern und geheimen Aftershowparties…
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