„Blood & Sinners“ & richtig guter Blues
Es gibt eine Szene in „Blood & Sinners“, die mit zum Besten und Musikalischsten gehört, das man lange auf einer Leinwand gesehen hat. Wir sind in einem sogenannten „Juke Joint“ in einem Dorf in Mississippi. Clarksdale, um genau zu sein. Wir schreiben das Jahr 1932. Es ist die Zeit der Rassentrennung. Die Sklaverei ist eigentlich beendet, aber der amerikanische Süden führt die Ungleichheit mit den zutiefst rassistischen Jim-Crow-Gesetzen einfach weiter. Auch der Ku-Klux-Klan mordet und lyncht, als müsse er keine Polizei fürchten. Zu Recht, den viele Polizisten sind nach Feierabend Kapuzenträger.
Die „Juke Joints“ waren die Rückzugsorte für die schwarze Bevölkerung: halblegale, improvisierte Kneipen, in denen vor allem der Blues regierte. In „Blood & Sinners“ spielt ihn in der besagten Szene ein junger Mann namens Preacherboy. Er ist ein Cousin der schillernden Gangster-Zwillinge Smoke und Stack (beide von Michael B. Jordan verkörpert), die das Etablissement gerade eröffnet haben. Preacherboy, gespielt von Sänger Miles Caton, ist tatsächlich der Sohn eines Pastors, der ihm den teuflischen Blues austreiben und zum Gospel bekehren will. Für seinen Vater hat Preacherboy den Song geschrieben, den er nun spielt: „I Lied To You“. Zur Gitarre singt er die ersten Worte: „See, I love ya, Papa, you did all you could do / They say the truth hurts, so I lie to you / Yes, I lied to you / I got the blues“.
Der schönste Geistertanz, den man dieses Jahr im Kino sehen kann
Und dann passiert etwas, bei dem man am liebsten der Leinwand zujubeln möchte: Regisseur Ryan Coogler lässt eine geisterhaft coole Erzählstimme durch die Szene wehen, die inzwischen wortwörtlich die Tanzfläche eröffnet hat. Es gäbe Musik heißt es, die sei so wahrhaftig und tief, dass sie die Grenzen von Raum und Zeit überwinden könne, die Grenzen zwischen Leben und Tod. Auch produktionstechnisch hebt „I Lied To You“ an dieser Stelle ab: Die DNS bleibt der Blues, aber plötzlich wehen moderne E-Gitarren durch den Song und der Gospel-Chor klingt so klar, wie man ihn damals nie hätte aufnehmen können. Noch viel schöner ist aber das, was auf der Tanzfläche passiert: Auf einmal sieht man einen spacigen Gitarristen, der zum Sun Ra Arkestra gehören könnte, das erst gut 25 Jahre später gegründet wurde. Ein DJ, der harte Public Enemy Vibes hat, scratcht kurz in den Song, die Zeiten verwischen, schwarze Hipster und coole Studio-54-Schönheiten tanzen zu diesem Lied, das am Ende regelrecht die Bude abfackelt.
„Blood & Sinners“ ist Ryan Cooglers Herzensprojekt
Ryan Coogler ist einer der erfolgreichsten Schwarzen Regisseure Hollywoods. Seine beiden „Black Panther“-Filme für Marvel waren popkulturelle Ereignisse, und auch sein Film „Creed“ schaffte das Unmögliche: Er machte das Jahre vorher K.O. gegangene „Rocky“-Franchise wieder fit. Cooglers Kinodebüt „Nächster Halt: Fruitvale Station“ wiederum war ein bewegendes Drama nach einer wahren Begebenheit, das vom frühen Tod eines jungen Mannes erzählt, der in der Silvesternacht zum Jahr 2009 aus rassistischen Motiven von einem Polizisten erschossen wird. In fast allen dieser Filme spielt Michael A. Jordan die Hauptrolle, wobei der „Black Panther“ natürlich vor allem durch den viel zu früh von uns gegangenen Chadwick Boseman unsterblich wurde. Hier spielte Jordan aber immerhin im ersten Teil den charismatischen Gegenspieler Killmonger, der König T’Challa sogar fast, aber nur fast, die Show gestohlen hätte.
Mit „Blood & Sinners“ gönnt sich Coogler nun endlich den Luxus, den er sich im Dienste der übergroßen Hollywood-Filme erarbeitet hat. „Blood & Sinners“ ist weder Comic-Verfilmung noch Franchise-Bedienung: Die trotzdem sauteuer inszenierte Produktion ist sein Erzählstoff – Coogler führte nicht nur Regie, sondern schrieb auch das Drehbuch. Man spürt in diesem Film in jeder Sekunde, dass er dabei einen Heidenspaß hatte. Coogler wirft hier sehr freimütig gefühlt drei Filme und fünf Genres in einen großen Gumbo-Topf und selbst, wenn nicht jede einzelne Geschmacksnote sitzt, ist man im Kino lange nicht mehr so gut unterhalten und immer wieder überrascht worden.
„Blood & Sinners“ spielt dabei im Laufe eines Tages und einer Nacht. Die beiden Zwillinge Smoke und Stack sind wieder in ihr Heimatdorf Clarksdale zurückgekehrt und treffen auf alte Liebschaften, Freunde und Feinde. Sie haben im ersten Weltkrieg gekämpft, waren kaltblütige Player in den Gang-Kriegen Chicagos, sind dort zu Geld gekommen und wollen sich nun den Traum eines eigenen „Juke Joints“ verwirklichen. Wir folgen diesem doppelten Michal B. Jordan durch den Tag, sehen wie sie beide getrennt losziehen, um Alkohol, Musikentertainment und Gäste zu besorgen.
Parallel dazu schleicht aber auch das Böse in die Stadt: Der aus Irland stammende Vampir Remmick ist auf der Jagd, frisch geflüchtet vor Vampirjägern, die nur zwei Minuten im Film, aber dabei so cool sind, dass man gerne einen eigenen Kinofilm über sie sehen würde. Remmick vergrößert seine Gefolgschaft, wie man das von Vampiren so kennt. Trotzdem zeigt sich schnell, dass er nicht das reine Böse ist: Seine Unsterblichkeit klingt ziemlich utopisch-sozialistisch, und auch bei ihm gibt es gute Musik: Remmick und seine wachsende Gang singen immer wieder abgründig-schöne Folk-Lieder. Und ganz ehrlich: Ihre Version von „Will Ye Go, Lassie Go?“ hätten nicht viele so toll hinbekommen – Mumford & Sons schon gar nicht. Am Ende kommt es zu einem spannenden Showdown im „Juke Joint“, der bis zum Morgengrauen geht, und selbst der Ku-Klux-Klan wird am Ende noch kollektiv über den Haufen geballert.
Blood & Sinners zeigt ganz nebenbei, wie der Blues den Rock’n’Roll prägte
Ryan Cooglers Film ist auch eine Liebeserklärung an den Südstaaten-Blues dieser Zeit. Oder besser gesagt: Coogler liegt viel daran, noch einmal zu unterstreichen, dass es ohne den Blues wohl weder Rock’n’Roll, noch Country, noch Rap gegeben hätte. Zumindest nicht so, wie wir sie heute kennen. In „Blood & Sinners“ schwingt zum Beispiel die Geschichte von Robert Johnson mit, der ein guter Startpunkt ist für die Historie des Blues. Er lebte von 1891 bis 1938 und ist sozusagen der Gründungsvater des unglücklichen „Club 27“, zu dem Künstler:innen gezählt werden, die im Alter von 27 Jahren tragisch verstorben sind – Amy Winehouse und Kurt Cobain zum Beispiel. Johnson ist eine Mythen-behaftete Figur. Ihm wurde nachgesagt, er habe an einer Straßenkreuzung seine Seele an den Teufel verkauft, um so singen und Gitarre spielen zu können. Dieser Kreuzung lag übrigens in Clarksdale, Mississippi – also in dem Dorf, in dem auch „Blood & Sinners“ spielt. Johnson befeuerte die Story nur zu gerne – mit Liedern wie „Cross Road Blues“ und „Me and the Devil Blues“.
Ein faszinierender Zeitgenosse und Urvater des Delta Blues ist Son House, der gut zehn Jahre älter als Robert Johnson war und als sein Mentor gilt. Son House, der eigentlich Edward James House Jr. hieß, war zunächst Prediger und damit dem Gospel zugeneigt. Wie auch Preacherboy in „Blood & Sinners“ beschloss er jedoch, den Blues zu spielen, wobei Gott in vielen seiner Songs noch immer eine Hauptrolle spielte.
Eine der charismatischsten Personen jener Zeit ist jedoch Sister Rosetta Tharpe, die 1915 geboren wurde und 1973 verstarb. Sie stammte aus einem religiösen Haushalt, war Tochter eines Pastors und einer Kirchensängerin. Schon mit sechs trat sie regelmäßig auf, spielte auf Messen Gitarre und sang. Tharpe vermischte von Anfang an Blues, Jazz und Gospel und wurde später zur Pionierin des Rock’n’Rolls. Sie war eine der ersten, die eine E-Gitarre spielte, am liebsten eine Gibson Les Paul, die ihren heute legendären Ruf vor allem Tharpe verdankt.
Tharpe begleitete sich oft selbst auf der Gitarre, schritt dabei über die Bühne, suchte den Blickkontakt mit dem Publikum. Sie spielte vor frommen Kirchgängern ebenso wie vor den durchtriebenen Gestalten in den „Juke Joints“ und Spelunken. Von ihr gibt es zahlreiche gute Tonaufnahmen und einige gefilmte Performances aus den 60er-Jahren. Gerade ist sogar ein Biopic über sie in Planung, bei der Lizzo Rosetta Tharpe spielen soll.
Wie wichtig und visionär diese und die anderen Künstler:innen waren, spürt man nicht nur in „Blood & Sinners“, man sieht es zum Beispiel auch bei Tharpes viel zu später erfolgter, postumer Aufnahme in die „Rock’n’Roll Hall of Fame“: Dort wurde sie von Alabama-Shakes-Sängerin Brittany Howard (die übrigens auch in „Blood & Sinners“ zu hören ist) und HipHop-Legende Questlove würdig vertreten.
Man würde sich wünschen, dass sich schnell herumspricht, was für mitreißender Film Ryan Coogler mit „Blood & Sinners“ gelungen ist – und dass die eine oder der andere danach die Lust verspürt, sich in die Musik dieser Künstler:innen einzugraben, die den Blues geprägt und dem Rock’n’Roll den Weg geebnet haben.

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