Der Festivalsommer 2022 wird heiß (umkämpft)
Immer mehr Festivals hauen ihre Line-ups für 2022 raus, völlig neue Events gehen an den Start und kämpfen um Aufmerksamkeit. Ein Blick auf eine Festivalsaison, die es so wohl nur einmal in 100 Jahren geben wird – im Guten wie im Schlechten. Und damit auch ein wenig Vorfreude aufkommt, packen wir noch ein paar unserer schönsten Festivalvideos in diesen Text …
Es klingt ein wenig seltsam, gerade jetzt über den Festivalsommer zu sinnieren. Draußen friert man sich den Arsch ab, an der Virenfront läuft sich Omikron warm, und die ersten Clubkonzerte werden wieder abgesagt, weil einem die hohen Infektionszahlen kaum eine andere Wahl lassen. Trotzdem geht es bei uns in der Redaktion schon viel um Festivals. Es vergeht kaum eine Woche ohne Line-up-Neuigkeiten in den DIFFUS News, unsere Partner-Festivals melden sich zwecks Präsentations-Gesprächen – und dann gab es natürlich das tragische Astroworld-Unglück, das auch einen Schatten auf die Saison hierzulande werfen könnte. Keine Bange, wir wollen hier jetzt nicht auf Drama spielen. Aber die Situation auf dem Festivalmarkt ist nach bald zwei Jahren Ausnahmezustand dermaßen besonders, dass sich ein genauer Blick lohnt.
Das Publikum ist ausgehungert, aber …
Fangen mir mit dem erfreulichen Teil an: Alle, die auch nur einmal in ihrem Leben einen guten Festivaltag hatten, sind heiß wie Frittenfett auf die neue Saison. Es gibt sogar Zahlen, die das belegen. Das Team von „Hoeme – für Festivals GmbH“ führte im Rahmen des Festivalmacher:innen-Treffens „Festival Playground“ mit 80 kleinen bis mittelgroßen Open-Airs eine Online-Umfrage durch, an der 37.000 Festivalfans teilnahmen. Was wohl alle von uns spüren, zeigen auch die Zahlen, die dabei herauskamen: Der „durchschnittliche Fan“ besuchte vor Corona 2,61 Festivals pro Jahr, nach Corona werden es 3,12 sein. Das bedeutet, dass zahlreiche Teilnehmende angeben, ihr Festivalpensum moderat zu erhöhen. Und man spürt es ja selbst: Wer von uns hat sich nicht schon hin und wieder dabei erwischt, auf YouTube Live-Mitschnitte und Aftermovies von den eigenen Lieblingsfestivals zu suchten? Oder stand wie der Autor dieser Zeilen diesen Sommer beim Immergut Festival im Regen und hat sich die Seele aus dem Leib gebrüllt wie nie zuvor, als Drangsal als fescher Latex-Satan über die Bühne stolzierte – das eine Mal im Sommer, als sich dieses Herzens-Ding Festival FAST wieder normal anfühlte (trotz Masken und Abstand). Laut der Hoeme-Umfrage hält sich auch die Angst vor Corona in Grenzen: Auf die Frage, ob man sich, sobald die Zeiten wieder „normaler“ werden, erneut in die Menschenmassen werfen will, die ja zu einem Festival dazugehören, gab es eine eindeutige Antwort: 93,7% aller Befragten haben nach Corona keine Sorge vor Menschenmassen und wünschen sich Festivals wie vor der Pandemie zurück.
Und damit wären wir beim ersten „Aber“: Denn die Umfrage (die es hier als Video-Keynote gibt) fand natürlich zu einem Zeitpunkt statt, an dem man hoffte, dass die Covid-19-Scheiße nun endlich mal halbwegs vorbei sei. Das ging uns bis vor zwei Monaten ja eigentlich allen noch so. Aber jetzt gibt es eine Mutation, von der man noch nicht viel weiß, außer dass sie sehr übertragungsfreudig ist. Jetzt werden wieder viele Tourneen der nächsten Monate verschoben oder abgesagt, weil es schwer planbar, gesundheitsgefährdend oder schlicht illegal wäre, sie trotzdem durchzuführen. Das alles erhöht den Druck auf die Livebranche, die eigentlich gehofft hatte, schon jetzt 2G-Konzerte spielen zu können und ab Anfang 2022 wieder einen halbwegs normalen Betrieb zu fahren. Und es könnte das Weihnachtsgeschäft versauen, denn normalerweise ist diese Zeit keine schlechte, um Festivaltickets zu verkaufen und damit Planungssicherheit zu haben. Wir sind alle hier sehr optimistisch, dass Festivals im Sommer 2022 – vermutlich unter 2G+-Bedingungen – mit voller Auslastung stattfinden können, aber psychologisch betrachtet fühlt es sich jetzt halt noch ein wenig seltsam an, mehrere hundert Euro für einen guten Live-Sommer auszugeben, wenn schon wieder das Wort „Lockdown“ in der Luft hängt. Andererseits ist es vielleicht gerade deshalb eine gute Zeit, sein Lieblingsfestival mit einem Ticketkauf zu beglücken, wenn man das Geld über hat.
Probelauf in anderen Ländern
Wer wissen will, wie eine Post-Corona-(bzw. Wir-tun-so-als-wäre-das-Gröbste-vorbei-Zeit)-Saison aussehen könnte, muss ja nur in die Länder schauen, die schon wieder Normalbetrieb fahren, wenn alle Zuschauer:innen geimpft oder genesen sind. Da bieten sich die USA und England an. In England fanden schon in diesem Spätsommer Riesenfestivals wie Reading und Leeds statt, in Chicago ging das Lollapalooza über die Bühne, was zu diesem tragisch-komischen Tweet führte – ein Wimmelbild, bei dem man den einen Menschen mit Maske finden sollte:
Als Superspreader-Event wurden jedoch all diese Events nicht bekannt, wobei es auch schwierig (bzw. nicht erwünscht) gewesen sein dürfte, alle Infektionen bis dahin nachzuverfolgen. Gerade in England hatte man ja schon bei der EM-Endrunde in diesem Jahr wenig Interesse daran, in konkreten Zahlen herauszufinden, was für eine verantwortungslose Scheiße man da angerichtet hatte. Ein warnendes Beispiel aus einem Nachbarland, das eh einen recht hilflosen bzw. lockeren Umgang mit der Pandemie hat, kam aus dem niederländischen Utrecht. Dort hatten sich an zwei Tagen auf einem Festival mit 20.000 Menschen am Ende 1.000 mit Covid-19 angesteckt – allerdings, auch das sollte man immer betonen, in den meisten Fällen mit milden Verläufen, weil die Mehrheit geimpft war.
Finanzielle und psychologische Faktoren
Es ist also mehr als wahrscheinlich, dass unser Festivalsommer in voller Pracht stattfinden wird (wenn nicht noch Omikron den Impfschutz aushebelt). Dafür wird auch die Live-Branche kämpfen, die wohl kaum noch ein Jahr ohne Haupteinnahme-Quelle im Sommer überleben kann – was inzwischen hoffentlich selbst die Politik geschnallt hat. Trotzdem gibt es neben diversen Sicherheitsbedenken noch weitere Faktoren, die sich auf die Kaufkraft und den Bock der Festivalfans auswirken könnten. Zum Beispiel der finanzielle Faktor: Viele Menschen wurden durch die Pandemie um ihren Job gebracht, oder haben sich im Studium verschuldet, weil die Studi-Jobs in Einzelhandel und Gastro wegbrachen. Selbst wenn alle auf Festivals wollen, muss man sich den oft teuren Spaß ja auch erst einmal leisten können. Und dann wäre da noch die wohl wichtigste Frage, die sich jeder stellen muss: Bin ich schon wieder bereit für große Menschenmengen, Pogo und Crowdsurfen? Wir alle haben in den letzten anderthalb Jahren viel weniger Menschen gesehen, als wir es sonst tun, haben vielleicht neue Ängste entwickelt oder sind es schlichtweg nicht mehr gewohnt, mit 40.000 Menschen auf einem Feld in Nord- oder Süddeutschland zu campen und zu feiern. Hier wird es die Fraktion geben, die Überwindung braucht (die, wenn man der eingangs zitierten Umfrage glaubt, vielleicht kleiner ausfällt) – und natürlich die, die sich mit allergrößter Freude wieder voll hineinwerfen wird. Die Festivalmacher:innen wissen das aber – und werden versuchen, dafür zu sorgen, dass sich beide Gruppen auf ihrer Veranstaltung wohlfühlen können.
Astroworld Festival als Warnung?
Für Festivalfans wie auch für Veranstalter:innen dürften die Bilder aus Houston vom Astroworld Festival (hier gibt’s unsere Folge DIFFUS News zum Thema) ein Schock gewesen sein. Zehn Menschenleben und dutzende Verletzte kostete eine Massenpanik, die beim Gig von Headliner und Mitorganisator Travis Scott ausbrach und grobe Schwächen im Sicherheitskonzept aufzeigte. Allein das ist schon tragisch genug. Schockierend war aber auch, mit welch einer aggressiven Energie das Publikum zur Bühne drängte, Sicherheitsschleusen überrannte und in vielen Szenen jegliche Rücksicht vermissen ließ. Hier zeigte sich die abgründige Seite einer Festivalbegeisterung, die sich anderthalb Jahre lang nicht entladen konnte und die nun auch noch auf einen Live-Act traf, der am liebsten „Rage“ im Moshpit hat und die Menge permanent anfeuerte, noch krasser abzugehen. Was man in zahlreichen Handyvideos vom Abend sehen konnte, sollte uns alle – egal ob Fan oder Veranstalter:in – dazu bringen, Rücksicht und Sicherheit noch mehr als sonst im Blick zu haben. Ohne dabei natürlich die Euphorie zu zerschießen – denn die wird ja schließlich das Köstlichste an diesem Festivalsommer sein und einer der Gründe, warum wir den Sommer unseres Lebens haben könnten.
Wer in den letzten 16 Monaten mit Veranstalter:innen und Booker:innen sprach, hörte oft, dass die Pandemie-Situation immerhin ein Gutes hatte: Die Branche, in der man den Mitbewerber:innen sonst nix schenkte und sich mit harten Bandagen anging, fand im Kampf um Sichtbarkeit bei den politischen Entscheidungsträger:innen (und im Kampf mit den Anträgen für staatliche Hilfszahlungen) zueinander und vernetzte sich in einem Maße, das man vorher nicht für möglich gehalten hatte. Ein gutes Beispiel dafür ist wieder das eingangs erwähnte „Festival Playground“-Treffen, bei dem Abgesandte der teilnehmenden Festivals in Workshops und auf Panels an Themen wie Nachhaltigkeit, Awareness, systemischen Rassismus und Diversität arbeiteten – um hier neue Wege zu gehen.
Gleichzeitig gab es viel Bewegung innerhalb der Branche und im Hintergrund einige erstaunliche Entwicklungen. So ist zum Beispiel das Traditionsfestival Rock am Ring nicht mehr in der Hand vom Branchen-Riesen Live Nation und RaR-Gründer Marek Lieberberg, sondern beim neuen Player DreamHaus. Der geht zwar mit einem frischen, jungen Team an den Start, hat aber mit CTS Eventim einen altbekannten Geldgeber im Rücken – nämlich den Erzfeind von Live Nation auf dem deutschen Markt. DreamHaus ist auch einer von drei Partner:innen des neuen Berliner Festivals Tempelhof Sounds, das parallel zum Melt Festival Premiere feiert und einige Bands im Line-up hat, für die man sonst nach Gräfenhainichen reisen musste. Auch die mehrfach verschobene Premiere des Superbloom im Münchener Olympiapark steht nun endlich ins Haus – und soll ein buntes Mainstream-Event im Stile der Lollapalooza Festivals werden.
All diese Faktoren mischen den schon zu „normalen“ Zeiten hart umkämpften Markt noch einmal gehörig auf. Und der Sommer 2022 ist bei all dem halt äußerst speziell: Die Veranstalter:innen rechnen fest mit unserer aufgeputschten und angestauten Festival-Lust und sorgen für ein erhöhtes Angebot an Veranstaltungen. In einigen Fällen setzt man bei etablierten Open Airs gar auf mehrere Festivalausgaben: Das Heroes Festival findet nicht mehr nur an zwei, sondern diesmal an drei Standorten statt. Das splash! Festival wiederum – seit jeher die schnell ausverkaufte Hauptadresse in Sachen Rap – weiß um seine Attraktivität und findet einfach doppelt statt.
Erste Anzeichen, dass der immense Druck die zuvor gemeinsam erlangte Kooperationsbereitschaft zu sabotieren droht, kann man hier und da schon wieder spüren. So machte das Orange Blossom Special in Beverungen kürzlich einen Konflikt mit den Macher:innen des Hurricane Festivals öffentlich, das in einem Disput über den Gebietsschutz für einen auftretenden Künstler (was bedeutet: Der Künstler darf in einem bestimmten Zeitraum und in einem bestimmten Gebiet nicht auftreten, weil das Hurricane ihn exklusiv gebucht hat) den Kürzeren zog. Das OBS schreibt in seinem Post: „Aber die allgemein andernorts derzeit zu bemerkende gewachsene Solidarität zwischen Veranstaltenden scheint hier an ihre Grenzen zu stoßen. Also wirklich: Was. Soll. Der. Scheiß? Ich will jetzt gar nicht die jammernde Leier von David gegen Goliath spielen, aber das ist einfach nicht zu verstehen.“ Klar, nur ein kleines, branchenübliches Scharmützel, bei dem man beide Seiten verstehen kann, aber schon ein Zeichen, dass der Ton wieder schärfer wird, weil alle Player:innen das meiste aus dem kommenden Sommer rausholen müssen.
Alles in allem trotzdem: Gute Zeiten für Festivalfans
Für all jene, die leidenschaftlich Festivals besuchen und von Live-Musik nicht genug kriegen können, bedeuten diese Entwicklungen allerdings eher gute Zeiten und blühende Festivallandschaften. Denn alle Festivals, die im Sommer 2022 an den Start gehen, wissen, dass sie um ihre Besucher:innen kämpfen und sie umwerben müssen. Die etablierten kleinen Indie-Festivals ebenso wie die großen Player. Für uns bedeutet das also: ein großes, vielseitiges Angebot und Bands, die ähnlich enthusiastisch AUF wie wir VOR der Bühne stehen werden. Es bedeutet aber auch: Wenn uns ein Festival am Herzen liegt, sollten wir zu allererst dieses supporten und mit unserer Anwesenheit beglücken. Denn alle in diesem hoffentlich im besten Sinne wilden Sommer haben ein Scheidejahr vor sich – und es liegt an uns allen dafür zu sorgen, dass Festivals der geile Scheiß bleiben, der sie vor den Jahren der Seuche waren …
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