Kommentar: Warum es wichtig ist, dass immer mehr Künstler:innen die Notbremse ziehen
Aykut Anhan alias Haftbefehl hat uns in seinen Tracks ein Dutzend starker, breitkreuziger, knallharter Zeilen geschenkt. „Ich steh‘ mit Rücken an der Wand, Hand an mei’m Schwanz / Andere am Ballermann, ganzer Körper angespannt“ ist nur eine davon. Mehr Testosteron und vermeintliche Stärke gehen nicht. Oder eben doch: Eine seiner männlichsten, mutigsten, stärksten, toughsten Zeilen rappte er nicht, sondern postete sie gestern auf seinem Instagram-Profil: „Mein Körper braucht eine Pause.“
Der härteste Rapper im Game braucht auch mal Pause
Auch wenn man als Fan enttäuscht sein mag, dass man Haftbefehl demnächst nicht live auf der Bühne sehen wird (was man nach dem Konzertabbruch in Mannheim schon befürchtete), muss man ihm für diesen Schritt Respekt zollen. Natürlich weiß man – nicht zuletzt aus Liedern wie „Depression & Schmerz“ oder aus unserem DIFFUS-Interview von Miriam –, dass Haftbefehl schwarze Phasen in seinem Leben hat und hatte. Trotzdem ist es ein Statement, wenn einer der härtesten Rapper so deutlich macht, dass er gerade nicht so funktionieren kann, wie es von einem Star wie ihm heute erwartet wird. Und das in einem Umfeld und einem Genre, in dem noch immer, nun ja, eher altmodische, bisweilen toxische Vorstellungen von Härte und Männlichkeit gelten. Was genau die „gesundheitlichen Gründe“ sind und ob sie was mit einem mentalem Struggle zu tun haben – darüber kann man natürlich nur spekulieren. Aber im Grunde ist es eh egal, denn Haftbefehl sagt das wichtigste: Er braucht eine Pause.
Kein Hype ist wichtiger als die eigenen Gesundheit
Das Statement von Haftbefehl war nicht das einzige, das uns in den letzten Tagen beschäftigte. Am Mittwoch sagten auch die Giant Rooks ihre letzten Festival-Verpflichtungen des Sommers ab. Obwohl sie gerade den Run ihres Lebens haben. Wer ihnen auf Insta oder bei TikTok folgt, sieht sonst immer unfassbar begeistertes Publikum, riesige Menschenmassen, singende Fans, eine Band, die alles gibt – und zwar gefühlt in allen Teilen der Welt. Trotzdem entschied die Band und ihr Team: Kein Hype ist es wert, dass man dafür die eigene Gesundheit aufs Spiel setzt. Das von Gitarrist Finn geschriebene Statement ist erstaunlich offen. Er gibt zu, dass er seit längerem immer wieder um seine mentale Gesundheit kämpfen muss (was er übrigens schon einmal in Miriams Podcast „Danke, gut“ erzählte) – und das Alles einen Punkt erreicht habe, an dem er gerade nicht weiterspielen kann. Was für die Giant Rooks bedeutet: Sie sagen drei immens wichtige Festivalshows ab – und holen sich eben nicht einen Ersatzgitarristen, den sie fix anlernen. Einen Band-Spirit, den wir ausdrücklich feiern.
Zuletzt widmeten wir uns in den DIFFUS News ebenfalls dem Thema „Konzertabsagen wegen Mental Health“, nachdem Malte von Beachpeople die Notbremse zog und KennyHoopla seine Herbsttournee cancelte, weil er Zeit brauche „um sich auf sich selbst und seine mentale Gesundheit zu konzentrieren“.
Mental Health sollte mehr als nur ein Trend sein
Die Reaktionen auf all diese Statements waren den Acts in den meisten Fällen wohlgesonnen. Und das ist vielleicht ein gutes Zeichen, dass Mental Health in der Musikindustrie mehr ist als ein Trendwort und ein gutes Thema für Talkrunden auf Branchen-Events. So faszinierend Musiker:innen auch sein mögen, ist es nun mal so, dass eine Karriere in diesem Feld psychologisch betrachtet das reinste Minenfeld ist. Es gibt den wirtschaftlichen und den kreativen Druck. Man ist seit dem Streaming-Boom und dank Social Media schmerzhaft genau in seinem Erfolg „messbar“. Man bewegt sich gerade in einem überreizten, mit vielen Problemen ringenden Live-Geschäft. Man bewegt sich in einem Umfeld, das an jedem Tag im Jahr Eskalation, Alkohol- oder Drogenkonsum ermöglicht. Man ist umgeben von Menschen mit harten wirtschaftlichen Interessen und vielleicht auch Menschen, die die eigene Gesundheit nicht als den wichtigsten Faktor in dieser Gleichung sehen. Man schwankt zwischen extremen Polen, wird mal auf der Bühne befeuert, angeschmachtet, mit Applaus beschenkt – und hadert dann am nächsten Morgen mit dem eigenen Selbstbewusstsein oder strauchelt bei dem Versuch, einen guten, erfolgreichen, ehrlichen Song zu schreiben. Hinzu kommt, dass viele Karrieren gerade in einem Alter beginnen, in dem man vielleicht auch schon ohne das Künstler:innen-Sein ein gewisses Päckchen zu tragen hat und erst einmal das Leben zwischen Rausch, Klarkommen, Pandemie, gesellschaftlichen Zwängen, Charakterbildung and so on auf die Kette kriegen muss. Was macht all die misogyne Scheiße in den DMs, die immer noch mit Sicherheit jede junge Künstlerin abbekommt? Was macht es zum Beispiel mit einem T-Low, der zwar für seine Nummer-1-Hits gefeiert wird, aber dann von der Rap-Szene für seinen Splash-Auftritt aufs Maul bekommt? Und auch wenn er selbst keine Musik macht, aber im Rap eben inzwischen auch ein Character ist: Hat Cengko jemanden im Team, der ihm auch mal sagt: „Heute keinen Nuklearsuff!“?
Auf das Team und die Branche kommt es an
Wir wollen hier natürlich nicht wie die letzten Spaßbremsen klingen. Eskalation, Drogenkonsum, Party, Ekstase – all das prägt Popkultur und hat einige der intensivsten Karrieren hervorgebracht. Oft auch mit tragischem Ausgang – aber den „Club 27“ wuchten wir an dieser Stelle jetzt nicht auch noch in diesen Text. Und es prägt auch das eigene Erleben von Musik, Konzerten, Festivals, Club-Abenden and so on. Aber trotzdem darf und muss man häufiger feststellen: Gerade in Zeiten von Kriegen in Fast-Nachbar-Ländern, hochtourigem Internetkonsum, einer noch immer andauernden Pandemie, einem verlockenden Drogenangebot und diversen anderen an die Existenz gehenden Ängsten ist es alles andere als selbstverständlich, NICHT den Verstand zu verlieren. Egal ob Musiker:in oder nicht. Das scheinen auch Fans wie wir zu wissen, die auf Absagen wie die von Haftbefehl und den Giant Rooks und allen anderen mit Verständnis reagieren.
Nun liegt es aber noch mehr als sonst an den Teams, den Labels und der gesamten Branche, die von Künstler:innen wie den genannten und anderen lebt: All diese Kreativen brauchen Menschen, denen sie vertrauen können. Labels, die finanzielle Interessen mit einem gesunden Umfeld verbinden. Managements, die die Gesundheit des Acts über alles andere setzen. Veranstalter:innen, die vielleicht nicht jeden von der Entourage geforderten Exzess ermöglichen. Und natürlich: Fans, die Verständnis zeigen und einen solchen ehrlichen Schritt als das sehen, was er ist: ein Zeichen von Stärke.
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