Moralische Grauzonen: Wenn die Musik einen Beigeschmack bekommt …
In den letzten Jahren rückten mehrere Musiker:innen nicht wegen ihrer Kunst in den Fokus der Öffentlichkeit – sondern wegen schwerwiegender Anschuldigungen. Namen wie Marilyn Manson, P. Diddy, R. Kelly oder Rammstein stehen für Vorwürfe, die oft vor Gericht endeten oder zumindest massive mediale Aufmerksamkeit erregten und für Diskussionen sorgten. Viele Menschen reagieren dabei instinktiv mit Ablehnung und die meisten können sich darauf einigen: ein derartiges Verhalten ist inakzeptabel und darf von niemandem toleriert werden. Ein Boykott der genannten Artists ist durchaus angebracht.
Nicht immer ist alles eindeutig
Aber was tun, wenn die Fälle nicht eindeutig juristisch oder moralisch zu bewerten sind? Wenn es nicht um strafbares Verhalten geht, sondern um Vorwürfe von Machtmissbrauch, Manipulation und unangemessene Verhaltensweisen innerhalb einer Band oder in deren direktem Umfeld – wie bei den aktuellen Diskussionen um Jeremias und Von Wegen Lisbeth? Während die einen klare Grenzen ziehen, versuchen andere abzuwägen. Es bleibt ein moralisches Dilemma, das uns alle betrifft: Musikfans, Journalist:innen und die Öffentlichkeit.
Im Fall von Jeremias kamen die Vorwürfe gegen einen ehemaligen Fotografen ans Licht, der seine Position ausgenutzt haben soll, um sich jungen Menschen anzunähern. In einer ersten Stellungnahme verteidigte die Band die Entscheidung, nach einer Aufarbeitung erneut mit ihm zusammenzuarbeiten – was auf breite Kritik stieß. Erst später gestand die Band ein, die Situation falsch eingeschätzt und den Vertrauensraum der Fans gefährdet zu haben. Jeremias beendeten daraufhin die Zusammenarbeit mit besagtem Fotografen.
Einige Wochen später solidarisierte sich die Band Von Wegen Lisbeth öffentlich mit den Betroffenen im Fall Jeremias, während jedoch unmittelbar darauf neue Anschuldigungen gegen ein eigenes Bandmitglied öffentlich wurden. Die Band erklärte, sich bereits in einem Aufarbeitungsprozess zu befinden und Unterstützung durch Expert:innen zu suchen. Dennoch bleibt ein bitterer Beigeschmack – sowohl bei den Fans als auch bei den Betroffenen.
Die moralische Grauzone
Nicht alle Vorwürfe aus den letzten Wochen, Monaten und Jahren sind juristisch relevant, aber sie werfen die Frage auf: Wie gehen wir als Fans und Medien mit Grauzonen um? Bei Künstlern wie R. Kelly oder Marilyn Manson ist die Verurteilung offensichtlich – die Beweise sprechen für sich (selbst wenn das viele Fans noch anders sehen). Doch wenn es um Verhaltensweisen geht, die nicht klar strafbar, aber trotzdem schädlich oder mindestens unsymphatisch sind, wird die Entscheidung schwieriger.
Musik bedeutet Emotion, bedeutet Nähe – und wenn das Bild einer Band plötzlich Risse bekommt, entsteht ein moralisches Spannungsfeld. Für manche Menschen ist es unvorstellbar, weiterhin Lieder zu hören, die mit negativen Assoziationen behaftet sind. Andere trennen Kunst und Künstler:in, hören die Musik weiter und versuchen, die persönlichen Vorwürfe auszublenden. Beide Haltungen existieren parallel zueinander. Und trotzdem sagen sie etwas darüber aus, auf wessen Seite man sich im Endeffekt stellen möchte.
Geschichten, die an die Öffentlichkeit dringen, zeigten in der Vergangenheit deutlich: Betroffene von Machtmissbrauch und emotionaler Manipulation stoßen immer wieder auf Skepsis und Abwehr. In einer männlich dominierten Musikindustrie werden Opfer oft ignoriert, belächelt oder gar als „Rufmörder:innen“ diffamiert.
Warum wir zuallererst den Betroffenen zuhören müssen
Umso wichtiger ist es, genau hinzuschauen, wenn Vorwürfe laut werden – selbst, wenn sie zunächst „nur“ andeuten, dass etwas nicht in Ordnung ist. Es muss nicht immer der krasseste Fall sein, damit ein Mensch sich verletzt oder übergangen fühlt. Emotionale Manipulation, Grenzüberschreitungen auf Tour, Machtdynamiken innerhalb einer Band: All das kann Betroffene nachhaltig belasten. In solchen Momenten sollten wir vor allem denjenigen unsere Aufmerksamkeit schenken, die sich trauen, ihre Geschichte zu erzählen. Gerade weil in vielen Fällen keine juristisch verwertbaren Beweise vorliegen, ist es umso wichtiger, erst einmal zuzuhören und nicht vorschnell in Frage zu stellen, ob die Person „übertreibt“ oder „empfindlich“ ist.
Sich auf eine Seite zu stellen, bedeutet oft auch, Gegenwind auszuhalten – gerade in Fan-Communities, die fest zu „ihren“ Bands stehen. Schnell fallen Schlagworte wie „Cancel Culture“ oder „Hexenjagd“. Doch wer Machtmissbrauch anspricht und kritisiert, hat nicht das „Canceln“ als Ziel, sondern will auf Missstände aufmerksam und die Perspektive der Opfer sichtbar machen. Stimmen, die Betroffene zusätzlich stärken und zuhören, nehmen eine entscheidende Position ein. Nur so kann im Endeffekt ein nötiger Shift in der Bubble erreicht werden, der hoffentlich endlich zur Selbstreflexion beiträgt. Wenn Menschen ihre Position für Machtmissbrauch ausnutzen, kann nicht weiterhin weggesehen werden.
Ein genauer Blick zeigt zudem: Wirklich „gecancelt“ wird selten jemand. Auch nicht jene, die es absolut verdient hätten. Sogar Bands wie Rammstein und Marilyn Manson füllen nach wie vor Arenen und können gut von ihrer Musik leben, ungeachtet der Vorwürfe. Wenn Einzelne oder auch Gruppen entscheiden, ihre Unterstützung einzustellen, ist das Ausdruck persönlicher Werte und Solidarisierung mit Betroffenen.
Wie wir als Medium mit solchen Fällen umgehen (müssen)
Was in den aktuellen Debatten um Jeremias oder Von Wegen Lisbeth deutlich wird, ist, dass wir uns in einem Spannungsfeld bewegen, in dem es selten klare Schwarz-Weiß-Antworten gibt. Eine deutliche Position bei moralischen und ethischen Fragen zu beziehen und diese zu formulieren, ist zwar als Einzelperson wichtig und richtig, jedoch aus der Position eines Musikmediums wie unserem nicht immer direkt möglich. Denn hier stehen die journalistische Sorgfaltspflicht und rechtliche Rahmenbedingungen im Fokus und müssen streng eingehalten werden, um nicht juristisch angreifbar zu werden und letzten Endes große finanzielle Schwierigkeiten durch juristische Verfahren zu riskieren. Was dennoch unabdinglich ist: Den Betroffenen zuerst zuzuhören, da ihre Perspektive in der Vergangenheit viel zu oft ignoriert oder diskreditiert wurde. Es gilt: Lieber einmal zu viel hingehört als zu wenig. Lieber einmal mehr Empathie gezeigt, als Betroffene erneut im Stich zu lassen. Und ja, das bedeutet auch, damit zu leben, dass es andere Meinungen gibt, die womöglich vorwerfen, zu schnell zu verurteilen oder „politisch korrekt“ und „woke“ sein zu wollen.
Trotzdem ist es hierbei entscheidend, jeden Einzelfall sorgfältig zu betrachten, denn die Vorwürfe und Umstände variieren. Fälle, in denen konkrete, strafbare Handlungen belegt werden können, bedürfen einer anderen Bewertung als Situationen, in denen es primär um subjektive Einschätzungen von Machtmissbrauch und Manipulation geht. Eine pauschale Zuordnung greift der Komplexität der einzelnen Fälle nicht gerecht und gefährdet, dass berechtigte Anliegen der Betroffenen verwässert werden. Deshalb muss immer der individuelle Kontext berücksichtigt und den Betroffenen genau zugehört werden – das ist unerlässlich, um sachgerecht und empathisch zu urteilen.
Musikmedien als Teil eines Systems, dass immer noch anfällig ist für Machtmissbrach
Auch Musikmedien wie wir befinden sich in solchen Situationen in einem Spannungsfeld. Sie sind Teil eines Systems, das nach wie vor anfällig für Machtmissbrauch ist. Dazu kommt, dass häufig langjährige Verbindungen zu den Acts gepflegt wurden, deren Verhalten später kritisiert wird. Trotzdem oder gerade deswegen gilt hier für Medien: Eine neutrale Berichterstattung zu den genannten Vorfällen ist nicht nur aufgrund der eigenen Position wichtig, sondern auch rechtlich relevant. Deshalb bedeutet es nicht, dass sich bei keiner direkten Reaktion auf die Seite der Bands gestellt wird. Oft passieren hier Dinge im Hintergrund, das Finden einer richtigen Sprache, um Vorwürfe klar darzulegen, die betreffende Band um eine Stellungnahme zu bitten und die strengen Regeln der Verdachtsberichterstattung konsequent einzuhalten. Nur so kann gewährleistet werden, dass eine gesamte Perspektive, aber auch jene der Betroffenen in der Berichterstattung angemessen gewürdigt und geschützt wird.
Am Ende steht es offen, wie viel Nähe oder Distanz jemand zu einer Band oder Künstler:in wahrt, wenn Vorwürfe im Raum stehen. Doch was wir nicht vergessen sollten: Das Thema ist größer als die Frage, ob wir privat noch bestimmte Songs streamen oder Konzerte besuchen. Es geht um ein gesellschaftliches Klima, in dem Betroffene ernst genommen und geschützt werden – und in dem wir alle lernen, genau hinzuschauen, wenn etwas nicht in Ordnung scheint. Das gilt ganz besonders für die Musikbranche und auch Medien wie unseres.

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