NATÜRLICH ist Harry Styles in Berlin – warum denn auch nicht?
Harry in knappen roten Joggerhöschen. Harry mit Sonnenbrille und überteuertem Berlin-Mitte-Café in der Hand. Harry im Gespräch mit einem hippen britischen Songwriter und Produzenten. Harry, wie er angeblich ein Berliner Studio verlässt.
Man kann sich gerade vor TikTok- und Insta-Clips über das Thema „Harry Styles in Berlin“ kaum retten. Und: Ja, klar, I get it! Harry ist ein fuckin‘ Weltstar, eine Süßmaus, eine Fashion-Ikone und der Typ Mann, bei dem sich vermutlich auch der ein oder andere ach so straighte Dude doch noch mal fragt, ob man nicht vielleicht das Ufer wechseln sollte. Ich schaue diese Videos irgendwie auch gerne und fühle so etwas wie Regionalstolz, wenn jemand wie Harry Styles ganz lässig durch „meine Stadt“ schlendert, in der sich seit über 15 Jahren lebe.
Trotzdem – oder gerade deshalb – nervt mich vieles an diesem Gossip-Hype. Da wäre zunächst mal die Frage, wie geil es eigentlich ist, Leute ohne ihre Zustimmung hinterrücks zu filmen, wenn sie in einem privaten Kontext unterwegs sind? Egal, ob sie nun berühmt sind oder nicht. Das ist zwar inzwischen anscheinend akzeptiertes Social-Media-Verhalten, aber genau das sollte es nicht sein. So was machen sonst vor allem Stalker oder ehrlose Paparazzi.
Weniger Schnappatmung, mehr Berliner Grundarroganz
Auch diese Schnappatmung in einigen Beiträgen ist nicht nur für Harry Styles abschreckend. Auch hier: I get it! Wenn man einen so berühmten Menschen plötzlich im Real Life sieht, der auch noch popkulturelle und/oder erotische Projektionsfläche ist, kann man sich schon mal gehen lassen. Aber muss man das dann gleich atemlos, wenige Sekunden nach der Sichtung raushauen, während man noch am Rosenthaler Platz ist? Es geht doch auch anders. Das beweist zum Beispiel Madeline Juno in diesem TikTok:
Ich durfte in meiner Zeit als Musikjournalist schon einige prominente Film- und Musikmenschen interviewen, die mal ein paar Wochen oder gar Monate am Stück in Berlin verbracht haben. Dabei sagte mir selbst ein Udo Lindenberg, der ja nun wirklich gerne in der Menge badet, dass er an Berlin vor allem diese stoische Grundknurrigkeit schätzt. Die zeige sich ihm auch darin, dass die Leute in zwar erkannten, dabei aber meist die Ruhe bewahrten oder nur wissend nickten. Der Berliner MC und Ghostwriter Sera Finale, der heute vor allem als rappendes Nashorn Dikka unterwegs ist, sagte in seinem Song „Berlin“ mal die schöne Zeile: „Wir sind vorne rum scheiße drauf, aber hintenrum nett.“ Das sollte doch auch weiterhin die Grundattitüde sein, mit der man allen Menschen hier – und nicht nur den Popstars – begegnet. Vor allem, weil man vermutlich genauso Harry Styles‘ Respekt bekommt – als Stadt und als Fan.
In Berlin ein Album aufnehmen? Iggy Pop, David Bowie und Depeche Mode lieben diesen Trick
Aus vielen TikToks oder Insta-Stories spricht die aufgedreht vorgetragene Überraschung, wie es denn passieren könne, dass Harry Styles überhaupt gerade in Berlin wohnt / arbeitet / abhängt. Einige Videos zeigen ihn an der Seite von Songschreiber und Produzent Thomas Edward Percy Hull alias Kid Harpoon, der schon bei „Harry’s House“ am Start war. Außerdem filmte ein Fan, wie Harry das Tonstudio Meistersaal in der Köthener Straße in Kreuzberg verließ. Auch hier drängt sich mir die Frage auf, warum das die Leute wundert?
Die britische Tageszeitung „The Sun“ zitierte kürzlich einen anonymen Insider, der zu berichten wusste: „Jetzt taucht er in die Endphase seines nächsten Albums ein, und Berlin ist (…) zu seiner Muse geworden.“ Harry, so der Insider, habe sich von David Bowie und dessen Berlin-Phase in den 70ern inspirieren lassen wollen. „Harry liebt es, seine Arbeit geheimnisvoll zu halten – genauso hat es Bowie gemacht.“
Einem „Insider“-Zitat in der Klatschzeitung „The Sun“ kann man zwar ungefähr so glauben, wie einem Artikel über linke Gewalt in der „BILD“, aber die Sichtung in der Köthener Straße spricht für die These, dass Harry hier ein Album aufnimmt. Der „Meistersaal“ ist nämlich nicht nur ein denkmalgeschützter ehemaliger Kammermusiksaal mit fantastischem Sound, er war auch das heute legendäre „Studio 2“ der Hansa-Tonstudios, in dem u. a. David Bowie seine großen, düsteren Berlin-Alben aufnahm – „Low“, „Heroes“ (beide 1977) und „Lodger“ (1997). Zu der Zeit lebte auch Iggy Pop in der Stadt und die beiden machten das Nachtleben unsicher.
Ich durfte vor einigen Jahren mal einen Talk mit Tonmeister Eduard Meyer moderieren, der damals als junger Mann in den Hansa-Studios mit arbeitete. Er erzählte mir zum Beispiel, dass Bowie und Iggy zu der Zeit in den Studios nicht gekokst hätten, sich aber gerne an der Kiste Schultheiß-Bier bedienten, die zum Service des Studios gehörte.
Das Bowie-Berlin war natürlich ganz anders als das heutige Harry-Berlin. Meyer sagte dem „Rolling Stone“ über Bowie und die Bedeutung der Stadt für ihn: „Meine private Meinung ist, dass ihn die besondere Situation in Berlin durchaus inspiriert hat. Bowie hatte sich bewusst entschieden, wegzugehen von den Zentren der Musik, in diese provinzielle, eingekerkerte Stadt. Das hat ihn unheimlich gereizt. Dazu kam natürlich noch seine eigene Lebenssituation, die schwierige Beziehung zu seiner Frau und seinem Sohn… aus all dem gingen irgendwie diese Songs hervor, die Texte, die Art der Musik, die ja etwas Neues war.“
Wie emotional Bowie auf Berlin blickte, sah man auch in seiner Spätphase. Als Bowie 2013 nach langer Pause seine Comeback ankündigte, tat er das mit der wunderschönen Berlin-Ballade „Where Are We Now?“.
„Where Are We Now?“ Gute Frage, auch mit Blick auf meinen kleinen Essay hier. Was ich damit sagen will: NATÜRLICH ist Harry Styles in Berlin, um sich inspirieren zu lassen und um ein Album aufzunehmen. Warum reagieren darauf alle so überrascht? Nicht nur Bowie und Iggy lieben diesen Trick, sondern auch U2, Iggy Pop, Depeche Mode, David Bowie, Eartha Kitt, Richard Clayderman, Marillion, Mike Batt, David Byrne, Nick Cave, Snow Patrol, Jon Bon Jovi, Supergrass – und das sind nur die ein paar der internationalen Acts, die auch in den Hansa Studios waren.
Eine Musikstadt lockt andere Musiker:innen an. So what?
Berlin war schon immer eine Musikstadt. Wir haben hier Studios mit Historie, Aura und technisch hochwertiger Ausrüstung. Wir haben eher zu viele als zu wenige kreative Songschreiber:innen, Produzent:innen, Tontechniker:innen, Musiker:innen und Künstler:innen. Wir haben die Büros oder HQs der drei großen Majorplattenfirmen. Wir haben ein Nachtleben, das zwar über die Jahre mehr und mehr gerupft wurde, aber immer noch ein Maß an Exzess bietet, dass es nicht überall gibt. Und wir haben in vielen Genres musikalische Duftmarken gesetzt, die Berlin in Deutschland und auf der ganzen Welt unsterblich gemacht hat – und das seit Jahrzehnten. Was ist also ungewöhnlich daran, dass internationale Musiker hier arbeiten wollen? Vor allem, wenn Deutschland auch noch einer ihrer größten Märkte ist?
Um Berlin und seinen Umgang mit Stars ging es auch kürzlich in unserem DIFFUS-Interview mit den geradezu legendären Berliner Musikerinnen-Komponistinnen-Songschreiberinnen-Schwestern Annette Humpe und Inga Humpe. Annette sagt darin über Berlin und den Umgang mit Stars wie Bowie und Co.: „Niemals hätte ich mich im Dschungel [legendärer Club in Berlin-Schöneberg, Red.] getraut, Iggy Pop anzusprechen. Man ließ die Leute in Ruhe. Und so ist Berlin immer noch. Ich seh‘ am Kuhdamm irgendwelche Größen vorbeilaufen – und die werden in Ruhe gelassen. Viel mehr als in anderen Städten.“
Damit hat die immer schon weise und präzise Annette Humpe das gesagt, was ich hier eigentlich auch mit den paartausend Wörtern sagen wollte: „Lieber Harry, die Leute, die Berlin gecheckt haben oder von Geburt an hier leben, lassen dich in Ruhe. Wir freuen uns, dass du hier bist – und sind gespannt, ob du mehr Berlin-Vibes auf dein Album kriegen kannst, als ein durchschnittlicher Zugezogener. Lass dich von den aufdringlichen TikTok-Touries also nicht aus der Ruhe bringen.“

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