Noise Rock für Masochist:innen und Black Metal from outer space
Chat Pile – Cool World
Man muss ja etwas zum Masochismus oder Selbsthass tendieren, um Chat Pile wirklich genießen zu können. Vom aktuellen Erfolg der Band rückschließend, kann man vermuten, dass das viele Menschen tun. Vielleicht ein Zeichen der Zeit. „Cool World“ ist auf jeden Fall ein solches Zeichen der Zeit – das Testament einer kalten, dystopischen, brutalen Welt.
Das zweite Album von Chat Pile führt die Darstellungen unserer menschlichen Abgründe in einer beklemmenden B-Movie-Tradition mit verschrobenem Storytelling fort. Und weil das allein noch nicht genug schwere Kost ist, werden diese Storys von dissonantem, teils dekonstruiertem Noise Rock mit Grunge- und Sludge-Einschlag untermalt. Das Verstörendste daran ist: Irgendwie ist es super catchy.
„Cool World“ ist ein hypnotisches, gewaltsames, schwermütiges Album, das stets kurz vor dem Zerfall zu stehen scheint und zwischen seinen Ausbrüchen träge über unsere Rücken kriecht und Gänsehaut verursacht. Mit seinem lethargischen Sprechgesang und seinen sich überschlagenden Schreien wirkt Raygun Busch wie ein schizophrener Killer, der uns verfolgt; jedes Riff und jeder Drumbeat gleicht derweil einem Messer oder Hammer, die nach uns geschwungen werden. Widerstand zwecklos.
Oranssi Pazuzu – Muuntautuja
In was für einer krassen Welt leben wir eigentlich, in der innerhalb von einer Woche die lang ersehnten neuen Alben von Blood Incantation und Oranssi Pazuzu erscheinen? Gut, die einen sind verwurzelt in Death Metal und Prog Rock, die anderen in Black Metal und Psychedelic – für kosmische Bewusstseinserweiterungen sorgen aber beide garantiert.
„Muuntautuja“ („Gestaltwandler“), Oranssi Pazuzus sechstes Album, ist ein düsterer Fiebertraum, der uns mit seiner Dichte, Intensität und Texturvielfalt fast an den Rand des Wahnsinns treibt. Industrial-Beats, (Harsh) Noise, Bass-Fuzz und maximal verzerrte Gitarren bilden eine außerirdisch anmutende Klanglandschaft, durch die entstelltes Geschrei irgendwo zwischen Alien und Roboter hallt. Ergänzt um wabernde Synths, Ambient-Passagen und klirrende Piano-Töne haben die Finnen hier den Soundtrack zu einem Sci-fi-Horror geschaffen, der sich nur in unseren Köpfen abspielt. Und da vermutlich nie wieder rauskommt.
Touché Amoré – Spiral In A Straight Line
Aus der Kategorie „It’s Not A Phase, Mom“: Touché Amoré schaffen es auch über 15 Jahre nach Veröffentlichung ihres Debüts noch, den Emo aus mir rauszukitzeln. Der klangliche Backdrop für Jeremy Bolms heisere Erzählungen von Melancholie und existenziellen Krisen ist heute freilich etwas melodischer und gesetzter, ihr sechstes Album „Spiral In A Straight Line“ bietet mit Songs wie „Disaster“ und „Mezzanine“ jedoch noch den einen oder anderen kaustischen Schlag in die Magengrube.
Im Mittelpunkt stehen auf „Spiral In A Straight Line“ jedoch die introspektiven Momente der Ruhe, verdeutlicht allein schon durch die Wahl der Gastauftritte von Lou Barlow (Dinosaur Jr., Sebadoh), Julien Baker (mittlerweile Stammgästin auf den Alben von Touché Amoré) und Ionna Gika, die mit ihrem ätherischen Gesang dem quasi-titelgebenden Song „Altitude“ eine fast schon gespenstische Aura verleiht. Touché Amoré haben damit irgendwo zwischen Post-Hardcore und Indie-Rock, Moshpits und großen Hooks, Trauer und Hoffnung ihr Zuhause gefunden. Schön da.
Hier gehts zur Hard in Here Playlist:
Christina Wenig ist Redakteurin, Journalistin und Fotografin aus Berlin. Für Magazine wie Visions und Metal Hammer schreibt sie über Metal, Hardcore und Artverwandtes; auf ihrem Instagram-Kanal teilt sie Live-Eindrücke aus verschwitzten Clubs und sinniert über Feminismus, Antifaschismus, Filme und ihren Hund.
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