Sam Fender im Interview: „Ich habe unerschütterliches Vertrauen in ,normale Menschen‘“
Wie klingt der Schmerz, wenn man eine Person verliert, die einem sehr nahestand? Und wie verbringt man die leeren Momente zwischen den Gedanken an sie? „People Watching“ von Sam Fender kommt einer Antwort auf diese Fragen unfassbar nahe. Schon mit den ersten Tönen des titelgebenden Tracks wird klar: Dieses Album markiert eine neue Ära für den Künstler und ein Gefühl, das seine Musik bisher noch nicht eingefangen hatte. „Ich wollte ein Album machen, das Frieden schließt mit vielen Dingen in meinem Leben“ sagt Sam Fender. „Aber auch eines, das die Menschen ehrt, die mir wichtig waren. Meine Großeltern, meine Freunde. Und Annie.“
Annie war eine enge Vertraute von Sam Fender, die jahrelang mit ihrer Gesundheit kämpfte. Während Fender mitten in den Aufnahmen zum Album steckte, besuchte er sie oft, spielte ihr seine neuen Songs vor. „Sie war ernsthaft krank. Es gab bessere Tage und schlechtere, aber sie hat gekämpft – jahrelang.“ Doch oft konnte er nicht bei ihr sein, vor allem während der Pandemie. Dann kam der Anruf, im November 2023: „Es ist so weit“, hieß es am anderen Ende der Leitung. „Es war ein Schock. Sie hatte eine Zeitprognose bekommen, aber plötzlich… ich weiß nicht. Jemand muss ihr etwas gesagt haben, das ihr die Hoffnung nahm. Und dann ging es ganz schnell bergab.“
Sam Fender und das „people-watchen“
Sam ließ alles stehen und liegen und reiste von London zurück in den Norden. Fünf Tage lang wich er nicht von Annies Seite, schlief auf einem Stuhl neben ihrem Bett. Er spielte ihr seine Musik vor, die neuen Stücke, an denen er gearbeitet hatte. „Sie hat es geliebt“, sagt er. Diese fünf Tage waren intensiv. Mal saß er einfach nur da, mal ging er für ein paar Stunden nach Hause, um etwas Schlaf zu bekommen. In den kurzen Momenten der Ruhe lenkte er sich ab, indem er die Menschen auf der Straße beobachtete. „Auf den Wegen nach Hause habe ich die Leute beobachtet, mir vorgestellt, was in ihrem Leben passiert“, erzählt er. „Das hat mir geholfen, mich für einen Moment von dem abzulenken, was im Zimmer mit ihr geschah. Denn ich wusste, dass ich jemanden verlieren würde, den ich sehr geliebt habe.“
Die ersten Zeilen des Albums erfassen genau dieses Gefühl: „I people-watch on the way back home / Envious of the glimmer of hope / Gives me a break from feeling alone / Gives me a moment out of the ego.“ Es waren Momente wie diese, die ihn durch eine sehr schwere Zeit trugen – insbesondere während der Besuche bei Annie: „Wir haben uns abgewechselt – Jo, ihre Nichten und ich. Sie wollte nie allein sein, und ich verstehe das. Sie wollte, dass immer jemand ihre Hand hält.“
Doch immer wieder brachte Annie denselben Vorwurf: „Du hast mich nie in einem Song erwähnt.“ Das blieb hängen. Also schrieb er für sie. Ein ganzes Album. „People Watching“ ist jedoch nicht nur eine Hommage an Annie, sondern auch ein Kommentar auf den Zustand des britischen Gesundheitssystems, das Fender in dieser Zeit aus erster Hand miterlebte. Pflegekräfte sind überlastet und unterbezahlt, was er in einer Zeile seines Songs eindringlich zusammenfasst: „Understaffed and overruled by callous hands“, singt er treffend – ein Schlag gegen das kaputte NHS.
Musik für „normale Menschen“
Auch Songs wie „Crumbling Empire“ kommentieren den versifften politischen Zustand, in dem sich gerade Europa und der Rest der Welt zu befinden scheinen. „Ich habe nicht besonders viel Hoffnung, was die politische Spitze dieser Welt betrifft… Man hört immer wieder von Ökonomen: ,Alles läuft großartig, die Wirtschaft wächst wieder!‘ Aber das kommt niemals wirklich bei den Menschen auf der Straße an. Es hat keinen spürbaren Einfluss auf unser Leben. Die Lebenshaltungskosten steigen weiter und weiter, und deshalb habe ich kein Vertrauen in das politische System, das wir im Moment haben.“, erzählt Fender, der gleichzeitig seinen Silberstreif am Horizont offenbart: „Ich habe unerschütterliches Vertrauen in ,normale Menschen‘. Ich glaube, dass es unglaublich viel Gutes in der Welt gibt.“
Genau diesen Menschen widmet er seine Musik. Ihm geht es nicht um Tourgeschichten oder das Leben auf Bühnen, sondern um die Realität. „Mein Leben hat sich in den letzten fünf Jahren drastisch verändert. Ich lebe nicht mehr so wie damals – und dafür bin ich sehr dankbar. Aber irgendwo gibt es auch ein gewisses Maß an Schuldgefühl, weil viele meiner Freunde zu Hause stark von der Wirtschaftskrise betroffen sind. Sie spüren direkt, wer an der Macht ist, sie machen sich Sorgen um ihre Jobsicherheit. Trotzdem fühle ich mich immer noch viel mehr dazu verpflichtet, darüber zu schreiben, als über Dinge wie das ständige Leben in Hotelzimmern oder auf einem Tourbus. Das würde einfach für niemanden Sinn ergeben.“
Festgehalten von Tish Murtha
Nicht nur seine Musik dokumentiert das Leben in seiner Heimat, auch die visuelle Welt seines Albums knüpft daran an. Die Fotografin Tish Murtha, die für die Album- und Singlecover verantwortlich ist, stammt aus South Shields – direkt gegenüber von Fenders Heimatstadt am Fluss Tyne. „Sie kommt aus der gleichen Gegend wie ich und hat Newcastle, den Nordosten Englands, London und viele andere Orte dokumentiert. Ihr Fokus lag immer auf der Arbeiterklasse und den ganz normalen Menschen. Besonders eindrucksvoll hat sie das Leben der Jugendlichen in den heruntergekommenen Gegenden von Newcastle – in Stadtteilen wie dem West End und Elswick – in den 70er, 80er und 90er Jahren eingefangen.“ Für Fender war Murtha deshalb die perfekte Wahl, um das visuelle Konzept seines Albums zu begleiten. „In gewisser Weise war sie die erste richtige ,People-Watcherin‘. Sie hat die Menschen beobachtet und ihr Leben festgehalten. Deswegen hat das für mich so viel Sinn ergeben. Und es ist einfach etwas, das sehr nah an meinem Zuhause und meiner Herkunft liegt.“
BRIT-Awards, eine neue EP und das, was noch kommt
Die Albumveröffentlichung am vergangenen Freitag war jedoch nur der Startschuss für ein Jahr, das der Brite mit seiner Musik füllen wird. Anfang März tritt Sam Fender bei den Brit-Awards auf, bei denen er in den Kategorien „Artist of the Year“ und „Best Alternative/Rock Act“ nominiert ist. Auf die Frage, ob er sich denn auf die Verleihung freue, antwortet der Künstler mit einem schiefen Lachen: „Ehrlich gesagt? Ich finde sie sind einfach nur ein heilloses Chaos, ein einziger Panikmoment und ich will einfach nur rein, meinen Song spielen und wieder raus. Ich mag meine Ruhe, ich verbringe meine Zeit lieber mit meinen Freunden. Diese Events lösen bei mir ziemlich viel Anxiety aus.“
Danach plant Sam Fender, Festivals zu spielen und noch mehr Musik zu veröffentlichen. „Eigentlich habe ich noch Material für zwei Alben. Es gab so viele B-Seiten, ich habe eine Menge Songs übrig, die es nicht aufs Album geschafft haben, die aber trotzdem gehört werden sollten. Songs wie ‚Tyrants‘ und ‚Me and the Dog‘. Und ich werde auch eine EP machen, weil ich zum Beispiel einen Song namens ‚Empty Spaces‘ habe und einen anderen, ‚I’m Always on Stage‘. Alles wirklich schöne Lieder, aber sie haben einfach nicht so ganz zu dem gepasst, was ich mit dem Album ausdrücken wollte. Ich habe gemerkt, dass die meisten Songs auf ‚People Watching‘ eher von anderen Menschen handeln, anstatt direkt nur von meine eigenen Gedanken.“
Am Ende steht die Erkenntnis: Wer genau hinsieht, findet in jedem Moment eine Geschichte. Genau dafür steht Sam Fender – und genau deshalb dürfen wir gespannt sein, was seine kommenden Projekte bereithalten. Bis dahin heißt es: Zurücklehnen, das neue Album genießen – und selbst ein wenig „people-watchen“.

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