Sion: Von Coversongs aus Bielefeld zu K-Hyperpop aus Seoul
Bei uns ist es Mittag und in Seoul ist es abends, als wir Sion zum Zoom-Call treffen. „Meine Güte, ich habe so lange kein Deutsch mehr gesprochen“, sagt er gleich zu Beginn in fließendem Deutsch. Dazu muss man wissen: Sion ist Sohn koreanischer Eltern, wurde in Bielefeld geboren und verbrachte dort Kindheit und Jugend. Nach Seoul zog er vor gut vier Jahren. Auf die (natürlich ironische) Frage, ob es denn ein großer Unterschied sei, ob man jetzt in Bielefeld oder Seoul wohne, weil ja beide Weltstädte seien, lacht er laut und sagt: „Unwesentlich. Sind ja im Grunde sehr ähnliche Städte. Seoul ist vielleicht ein klein wenig schneller – und ein paar mehr Menschen wohnen hier auch.“ Das stimmt natürlich. In Bielefeld wohnen rund 350.000 Menschen, in Seoul neuneinhalb Millionen.
Sion: Musik voller „eigensinn“
Am Tag unseres Gesprächs hat Sion gerade seine dritte EP veröffentlicht. „eigensinn“ heißt sie und macht ihrem Namen alle Ehre. Die sieben Songs sind ein wilder Ritt und klingen ungefähr so, als hätte man erst ein normales, fett produziertes Pop-Album aufgenommen, dann die Songs zerschreddert und die Fetzen schließlich der Discord-Community zum Fraß vorgeworfen. Wobei diese Beschreibung vielleicht ein wenig zu sehr nach Chaos klingt und deshalb in die Irre führt. Songs wie „holdon“, „celeste“ und vor allem „homes“ changieren eher gekonnt zwischen überdrehter Euphorie, lyrischer Finesse, weltumarmenden Popmomenten und melodiebesoffenen Krach – und funktionieren am Ende so gut, weil Sion als Produzent, Songwriter, Komponist, Musiker und Sänger diesen bunten Laden dann doch sehr überlegt zusammenhält.
Dass Sion als international ausgerichteter, englisch singender Künstler seiner EP einen deutschen Titel gibt, macht in diesem speziellen Fall mehr als Sinn. Dieses seltsame Wort „eigensinn“ ist zwar noch nicht auf dem Level von „Zeitgeist“ oder „Weltschmerz“, die es auch in die englische Sprache geschafft haben – aber es funktioniert irgendwie ähnlich. Sion meint dazu: „Ich wollte mit dem Titel unterstreichen, dass ich in Deutschland geboren wurde und das natürlich mein Leben mitgeprägt hat. Außerdem fand ich einfach keine passende Übersetzung – und denke auch, dass ‚eigensinn‘ ein sehr spezielles, universell verständliches Wort ist. So wie die von dir genannten. Auf der EP geht es viel um persönliche Schmerzen, die irgendwie von mir selbst erzeugt wurden, deshalb passte ‚eigensinn‘ einfach perfekt.“
Der Sound der EP, den Sion sehr treffend als „K-Hyperpop“ bezeichnet, klingt dabei nicht umsonst nach aufgekratzten Deep Dives in die bunten und dunklen Ecken des Internets. Auch die Lyrics spiegeln diese Themenwelt. Er selbst sagt, er habe vom Aufwachsen im Internet erzählen wollen. „Ich will vermitteln, wie dieses Aufwachsen für meine Generation gewesen ist – und wie es sie bis heute prägt. Seit ich in Korea lebe, ist mir das noch mal deutlicher bewusst geworden. Ich bin ja als Künstler im Internet ständig mit Kommentaren und Retweets konfrontiert und da merke ich einfach sehr oft, wie toxisch meine Generation in vielen Dingen ist. Das merke ich auch an mir selbst – an der Art, wie ich agiere und mit Problemen umgehe. Wenn ich irgendwie ein Problem habe, muss ich es ja eigentlich lösen. Aber stattdessen bin ich dann einfach auf dem Phone unterwegs, gehe durch diverse Reels und versuche das Problem einfach zu vergessen.“
Wer kennt es nicht? Sion wollte dabei vor allem verstehen, wie es so weit kommen konnte. Seine Theorie: „Ich glaube, es liegt daran, dass unsere Eltern sehr darauf fokussiert waren, uns im echten Leben zu beschützen. Aber irgendwie hatten sie keine Ahnung davon und keine Kontrolle darüber, wie wir im digitalen Leben unterwegs sind – und was uns dort so alles begegnet. So hat sich meine Generation ihren eigenen Untergang zusammengebaut. Das wollte ich mit diesen Liedern sagen. Gleichzeitig finde ich es sehr ironisch, dass ich sage, wie kacke das alles war – und dabei viele Referenzen auf elektronische Musik der Zehnerjahre nutze, die ja in dieser digitalen Welt groß wurde.“
Auch seine Musik sei ein Stückweit Rebellion gegen das, was die Eltern ihm vermittelt haben. Die beiden sind Opern-Musiker:innen – dementsprechend regierte zuhause vor allem klassische Musik. „Ich bin in einem sehr klassischen Umfeld aufgewachsen und spiele seit dem Kindesalter Klavier. Da hört man nicht so oft laute und chaotische Geräusche wie jene auf meiner EP. Meine Eltern waren auch eher skeptisch gegenüber Popmusik – bis ich angefangen habe, welche zu machen und sie ein wenig überzeugen konnte.“
„eigensinn“ ist schon Sions dritte EP – aber es sei die erste, die seinen Wunschsound träfe, sagt er. „Meine ersten EPs ‚love‘ (2022) und ‚socioavoidance‘ (2024) sehe ich heute eher als Versuch, dem nahezukommen. Mit ‚eigensinn‘ bin ich jetzt glaube ich für den Moment ganz nah dran – die EP ist vom Genre her einfach das komplette Gegenteil von dem, was ich in meiner Kindheit gehört und gemacht habe.“
Ein kurzer Rückblick: Wie war das eigentlich damals bei „The Voice“?
Wenn man heute mit Sion spricht, scheint die Zeit bei „The Voice of Germany“ weit weg. Aber wenn man sich diese Auftritte noch mal anschaut, die im Jahr 2020 gesendet wurden, kann man eventuell sogar schon erkennen, das sich hier gerade ein sehr eigensinniger und talentierter junger Musiker auf den Weg macht. So hatte Sion zum Beispiel den Beat unter seinem Cover von Post Malones „Better Now“ mal eben selbst produziert. Auch seine Coaches Mark Forster und Nico Santos sagten unabhängig voneinander, dass sie in ihm mehr sähen als einen bloßen Performer. „Ich weiß bis heute nicht, wie sie es gesehen haben, aber vor allem Nico hat mir sehr früh vermittelt, dass er irgendwie viel mehr in mir sieht als einen klassischen ‚The Voice‘-Sänger und fest daran glaubt, dass ich danach noch viel eigenes Zeug machen werde. Ich weiß wie gesagt nicht, was er in mir gesehen hat, aber ja, das war schon ziemlich krass und im Rückblick sehr wichtig für mich.“
Südkorea kann nicht nur K-Pop
Zurück in die Jetztzeit und in unseren Zoom-Call nach Seoul. Wenn Sion live in anderen Ländern unterwegs ist, oder wenn Musikmagazine über ihn berichten, liest man immer wieder, er mache K-Pop. Das liegt natürlich daran, dass koreanische Popmusik in den letzten Jahren einen unvergleichlichen Hype erlebt hat, und K-Pop-Bands wie BTS, Stray Kids, Blackpink, New Jeans, Le Sserafim, Twice oder Aespa gefühlt kurz vor der Weltherrschaft stehen. Stilistisch war K-Pop dabei schon immer schwer zu fassen: All diese Bands wechseln oft mal die Richtung, eignen sich verschiedenen Genres an oder lassen diese in einem Song aufeinander krachen. Das verbindende Element all dieser genannten Musik ist also nicht der Musikstil, sondern das System, das sie hervorgebracht hat. Die größten K-Pop-Acts wurden von etablierten Produktionsfirmen gecastet, konzipiert und zusammengestellt – mit Trainees, die sie in der Regel selbst ausgebildet haben. Und eben deshalb ist es ein wenig verquer, Sion mit K-Pop zu assoziieren, der eher ein Indie-, Selfmade- oder gar Underground-Künstler ist.
Trotzdem sagt er uns: „Als ich mit dem Musikmachen angefangen und erste Songs veröffentlich habe, nervte es mich ehrlicherweise noch sehr. Da hatte ich noch diesen Kick, dass ich Indie-Musiker bin und eben nicht in dieser Riesen-Industrie hänge. Da war ich so drauf, dass ich immer sagte: ‚Ey Leute, ich bin doch kein K-Pop!‘ Aber nach einer Weile habe ich irgendwie gespürt, dass das auch nicht hundertprozentig stimmt.“
Irgendwann habe er sich aber gedacht: „Ja, doch. Eigentlich bin ich K-Pop. Ich bin Koreaner und mache Hyper-Pop-Musik. Es ist K-Hyperpop.“ Im Endeffekt sei K-Pop für ihn einfach nur ein Label, das stilistisch eh ein sehr weites Feld aufmacht. „Meine Songs klingen nicht wie die großen K-Pop-Hits, aber ich bin Koreaner, und ich mache Pop. Populäre Musik. Deswegen wehre ich mich seit letztem Jahr nicht mehr, wenn man mich K-Pop-Künstler nennt – auch weil ich großen Respekt vor dieser Industrie habe.“
„Eine Rebellion gegen K-Pop-Strukturen“
Als Produzent und Songwriter erkennt Sion natürlich die Qualität vieler High-End-Produktionen und -Performances der großen K-Pop-Acts. Trotzdem haben wir manchmal das Gefühl, er nähme diese Perfektion und diesen Blockbuster-Pop-Approach hin und wieder auf die Schippe. Man höre zum Beispiel noch einmal den Song „homes“, der anders produziert auch eine mainstreamige Pop-Ballade oder sogar ein breitkreuzig produzierter Rocksong hätte sein können. Ist das etwa so was wie ein cheeky „Ich könnte, wenn ich wollte!“?
Da muss Sion kurz lachen – und antwortet: „Ich glaube, das trifft es ganz gut. Mein Sound ist auch eine gewisse Art der Rebellion gegen die K-Pop-Strukturen. Diese Industrie ist hier natürlich sehr präsent und bringt viele Zwänge mit sich. Das ist kein Disrespect gegenüber der koreanischen Musikindustrie, aber man kann schon sagen, dass K-Pop sehr kalkuliert ist. Ich wollte gleichzeitig zeigen, dass ich Pop-Strukturen draufhabe, mich aber bewusst dazu entschieden habe, nicht diesen Weg zu gehen. Ich will etwas Spezielles erschaffen, habe aber gleichzeitig eine große Liebe für Popmusik. Ich glaube, ein Song wie ‚homes‘ verinnerlicht beides.“
Das Tastemaker-Label Beatiful Noise
Bei der Gelegenheit müssen wir auch kurz über Sions Labelheimat sprechen. Sion wurde recht früh auf Beautiful Noise gesignt – was für Kenner:innen der koreanischen Musikwelt nicht weniger als ein Gütesiegel ist.
Das in Seoul ansässige Label, das 2018 vom Rapper Mommy Son gegründet wurde, gilt einerseits als Tastemaker für den koreanischen Untergrund, macht aber auch den Spagat, den Sion da eben beschrieben hat. Einerseits nehmen sie den koreanischen Mainstream, also K-Pop, ins Visier, andererseits haben sie dennoch einen spürbaren Respekt für die Leistungen der Idols und den massiven popkulturellen Impact von K-Pop. Deutlich wird das vor allem in Videos wie diesem von Mommy Son, in dem er mit seinen Labelkollegen Blackpink covert und ihnen einen abgründigen Twist gibt:
Sions Labelkollege Zior Park wiederum, den man in diesem Clip sieht, taucht auch in den Credits des RM-Albums „Right Place, Wrong Person“ auf. Der BTS-Bandleader holte Zior Park für den dunklen Rap-Track „out of love“ ins Team.
Sion sagt bei unseren Zoomcall, dass er Beautiful Noise für „eines der interessantesten Labels in Korea zurzeit“ hält. Das Schöne dabei sei: „Wir sind wie eine Familie. Wenn jemand von uns ein Konzert spielt, sind wir meistens auch dabei, wenn wir es einrichten können. Und wir haben einige Fans, die wirklich explizit das Label lieben. Ich glaube, das kommt vielleicht daher, dass man diesen familiären Indie-Spirit sieht. Ich bin jedenfalls sehr stolz, auf diesem Label zu sein.“
Auch, wenn Sion und seine Kolleg:innen also eigentlich Indie-Musik machen, schätzen sie doch die koreanische Musikindustrie, die vor allem über die großen K-Pop-Acts wahrgenommen wird. Gleichzeitig ist die südkoreanische Kulturpolitik nicht nur bei den Großen supportive, sondern scheint zu wissen, dass der koreanische Untergrund viele kreative Köpfe hervorbringt, die dann vielleicht auch den Mainstream-K-Pop bereichern.
Sions internationale Promotion-Kampagne zur „eigensinn“-EP und seine Europatournee im Spätherbst werden zum Beispiel unterstützt von der Korea Creative Content Agency (KOCCA), die beim südkoreanischen Ministerium für Kultur, Sport und Tourismus angedockt ist.

Am 9. Dezember spielt Sion in der Kantine am Berghain in Berlin
Wer Sions K-Hyperpop mal live erleben möchte, kann das Anfang Dezember tun. Am 9. Dezember spielt er in der Kantine am Berghain in Berlin. Während er sonst mit Klavier und Band auf Tour ist, dreht er diese Show ebenfalls ganz auf „eigensinn“, wie er uns erklärt: „Das Band-Ding muss ich jetzt für eine Weile aufgeben. Ich habe mein Album in Korea schon dreimal live gespielt und da habe ich wirklich nur meinen DJ-Controller und ein Mikro mitgenommen. Mein Klavier bleibt zuhause – weil das in dem Genre eben so ist. Im Endeffekt ist Hyperpop Partymusik, auch wenn die Lyrics oft in andere Richtung gehen. Deshalb ist es mir wichtig, mit den Leuten vor Ort zu interagieren. Ich bin bei diesen Konzerten oft ins Publikum und war Teil der Moshpits.“
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