Was wir Kulturmänner von Billie Eilish und Nina Chuba halten
Irgendwie fühle ich mich nicht ganz wohl bei diesem Kommentar. Weil ich mir damit selbst ins Bein schieße. Ich bin auch ein männlicher Redakteur und Autor über 40, der in den letzten Jahren zum Beispiel viel über K-Pop geschrieben hat. Eine Musik, die nicht unbedingt für mich gemacht wird und eine Fangruppe hat, in der ich schon irgendwie auffalle. Ich habe außerdem hier bei DIFFUS einen Buchpodcast, bei dem ich oft feministische Autorinnen vorstelle – aber ich weiß bei jeder Zeile, dass ich vieles darin nicht direkt nachfühlen kann. Und ich habe zum Beispiel für ein Videoformat der Telekom vor einigen Wochen Badmómzjay interviewt – DIE queere Leitfigur im testosteron-verseuchten Deutschrap. Und auch, wenn wir uns gut verstanden haben und lange und deep sprachen, weiß ich irgendwie, dass sie es viel spannender gefunden hätte, wenn dort eine geschätzte Musikjournalistin gesessen hätte.
Nina Chuba zwischen Empowerment und Autoren-Egozentrik
Trotzdem habe ich mich am Wochenende irgendwie über meine Zunft – die ich mal erweitert als „Kulturjournalismus“ und etwas reißerisch als „Kulturmänner“ bezeichnen möchte – aufgeregt. Ausschlaggebend waren zwei Dinge: Zum einen gab es im Berliner Journalismus diverse Nachberichte zum Gig von Nina Chuba in der Max-Schmeling-Halle. In der Berliner Zeitung schrieb ein geschätzter männlicher Kollege über die Show, der offenbar weder Sympathie noch popkulturelles Interesse an dem Phänomen, der Musikerin oder der Person Nina Chuba hatte. Unter anderem warf er ihr vor, dass ihr Empowerment in Egozentrik kippen könnte – obwohl sie musikalisch oft in einem Genre unterwegs ist, in dem Empowerment DURCH Egozentrik quasi das Trademark ist. Was aber bei männlichen Rappern oder Pop-Rap-Grenzgängern keine Sau stört, wird irgendwie zu einem Problem gemacht bei einer Künstlerin, die eben weit mehr ist als ihr FDP-Flex-Track „Wildberry Lillet“, den sie inzwischen übrigens sehr selbstironisch inszeniert. Nina Chuba ist aber nun mal gerade eine der erfolgreichsten Künstlerinnen des Landes und Idol für viele junge Mädchen und Frauen. Eine Position, mit der sie übrigens sehr rücksichtsvoll umgeht. Auch wenn der Text gut geschrieben war – wenn man denn auf diesen feuilletonistischen Klugscheißer-Tonfall steht, der immer ein wenig nach Studienabbrecher klingt – hatte ich vor allem den Eindruck, dass hier eine völlig falsche Person zum Gig geschickt wurde. Zumindest wenn man nicht bloß einen „Kritiker“ hören will, sondern als Redaktion über die Konzertrezension versuchen will, der älteren Leserschaft zu erklären, was da gerade warum passiert.
Was Harald, Daniel, Michael und Stefan von Billie halten
Meine zweite Erfahrung ging in die gleiche Richtung. Ich war auf einem Festival und verpasste eine der spannendsten Veröffentlichungen des Jahres: „HIT ME HARD AND SOFT“, das dritte Album von Billie Eilish, kam endlich raus. Die Platte, in der sie von ihrer queeren Selbstfindung singt – unter anderem in „LUNCH“, dem vielleicht hottesten Stück im „Gay Pop“ (sorry JoJo Siwa). Als ich am Montag dann während einer langen Zugfahrt die neuen Songs hörte, las ich mich durch die bisher veröffentlichten Rezensionen. Ich bin da durchaus manisch: Bei Pop-Events in dieser Kampfklasse will ich wissen, was die Kulturwelt und die Konkurrenz darüber schreibt.
Ich begann mit der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, weil ich die am Wochenende immer lese, und erfuhr, was ein Harald über das Album denkt. Es folgte ein Blick in die „Spiegel“-App, wo Jurek dran war. Kurz mal schauen, was der „Stern“ sagt: Aha, ein Jochen findet es super. Bei den Freund:innen vom „Musikexpress“ war André dran – Top-Autor, keine Frage. Mal kurz googlen, was die „Short News“ so anzeigen: „Saarbrücker Zeitung“ recht weit oben mit Stefans Take. Dann die „Aachener Zeitung“ mit Michael. Die „Zeit“ kann Musik auch ganz gut: hier ist ein geschätzter Namensvetter an der Tastatur. Redaktionsnetzwerk Deutschland: Mathias.
Mh, wie sieht es im Ausland aus? Jon in der „New York Times“, Ueli (was ein Schweizer Männername ist, wer’s nicht weiß) bei der Neuen Zürcher Zeitung mit einem guten Take. Auf der Website vom Schweizer Radio und Fernsehen „SRF“: Claudio. „Der Standard“ in Österreich: ein Michael. Der Ami-„Rolling Stone“ ließ Rob die Rezi schreiben – aber die hatten immerhin die tolle Titelstory von Angie, in der Billie sehr offen über ihre Karriere und ihre Sexualität sprach. Vielleicht sogar offener, als sie das beim fürchterlichen Apple-Music-Buddy-Boy Zane getan hätte…
Kitty, Sandra, Nadine und Silvia waren zum Glück auch am Start
Fairerweise muss man auch noch sagen: im britischen „Guardian“ schrieb Kitty, für den deutschen „Rolling Stone“ Jenny, beim „Zündfunk“ vom „BR“ Sandra, im Tagesspiegel Nadine, bei der Frankfurter Rundschau Silvia. Aber das machte die Sache dann irgendwie auch nicht besser.
Was ich mit dieser Auszählung sagen will: Ich finde der Musikjournalismus hat immer noch ein Problem, das heutzutage aber noch ein wenig mehr auffällt als zuvor. Es gibt zu viele etablierte, gute vernetzte Kulturmänner mittleren Alters, die dann auch noch oft auf den Positionen sitzen, wo entschieden wird, wer was schreibt. Und damit schieß ich mir wieder selbst ins Bein. Weil das exakt so bei mir zutrifft. Ich profitiere davon, dass ich gut vernetzter Dude bin, der seit Jahren in der Branche unterwegs ist und teilweise eine Position innehatte, in der ich mir die Themen wie Rosinen hätte picken können – und das sicher manchmal gemacht habe. Zum Beispiel, als ich das Telefon-Interview mit Dua Lipa vor einigen Jahren einfach selber machte, weil die Zeit ein wenig knapp war und ich mir alibimäßig einredete, dass ich so schnell auch keine Autorin finden würde.
Was die Sache aber heute auffälliger macht und was uns Kulturmännern zu denken geben sollte: Viele der großen Pop-Themen sind gerade einfach brillante Musikerinnen, die oft eine große, weibliche Fangruppe ansprechen, die eine sehr starke emotionale Verbindung zu ihnen hat. Sei es Billie Eilish, Nina Chuba, Beyoncé, Taylor Swift, Badmómzjay, Blackpink and so on. Es spricht ja gar nichts dagegen, den Take eines versierten Kulturjournalisten und Kritikers zu lesen, aber diesen Take gibt es immer noch ganz oben in den Google-Rankings oder bei den Medien, die als Instanz oder Tastemaker gelten.
Vom Platzmachen und Auf-dem-Wege-Helfen
All die genannten Kollegen seien mit diesem Kommentar auch bitte nicht als gedisst gebrandmarkt. Das waren alles überzeugende Artikel, keine Frage. Aber bei einer so klar erkennbaren Unwucht, bei einem Thema wie Billie Eilish, muss man doch als Redaktion auch mal drüber nachdenken, ob ein solches Phänomen nicht auch mal einen anderen Take braucht. Nina Chubas Texten zum Beispiel das vorzuwerfen, was im Rap-Game Gang und Gäbe ist (nämlich hin und wieder auf dicke Hose zu machen und damit für viele ein selbstbewusstes Vorbild zu werden) oder als Cis-Dude ein queeres Coming-of-Age-Album wie „HIT ME HARD AND SOFT“ fachmännisch einzuordnen ist ein Zugang – aber eben der, der den Musikjournalismus einst in seine Diversitäts- und Nachwuchs-Krise gebracht hat. Wie geil wäre es, mal eine junge Musikjournalistin darüber schreiben zu lassen, die Kritikfähigkeit hat, aber trotzdem etwas besser nachfühlen kann, was zum Beispiel all die queeren Kids jetzt fühlen, wenn sie „LUNCH“ von Billie Eilish hören? Stattdessen hebt halt wieder ein Musikjournalist männlicher Prägung wie ich das Bein und darf den Text über die Platte, über die alle reden, exakt am Tag der Veröffentlichung schreiben.
Und das ist dann nämlich der springende Punkt, der einem als mittelalter Kulturmann zu schaffen macht: Wer in dieser Branche im Game bleiben will, muss hin und wieder Texte schreiben, die den Talk-of-the-Town behandeln – am besten noch in einem „Qualitätsmedium“. Sie sind die Währung, die man – gerade als freier – Kulturjournalist hat und pflegen muss. Trotzdem behandelt man dabei immer wieder Themen und Songs, die eigentlich eine ganz andere Zielgruppe ansprechen. Als Autor oder Kritiker fehlen einem dann einfach Zugänge und Erfahrungen, die entscheidend sein können, um ein popkulturelles Phänomen tatsächlich zu verstehen oder mal einen anderen Blick zu transportieren, der vielleicht ein wenig näher an der Fan-Wahrnehmung ist. Was schnell zu seltsam distanzierten oder manchmal gar zu unterschwellig sexistischen oder verächtlichen Texten führt. Andererseits bringt man mehr Texterfahrung mit sich, hat über die Jahre ein großes musikalisches Wissen angesammelt, kennt historische Referenzen und weiß vielleicht schon besser, wie man eine Rezension knallig auf den Punkt bringt.
Deshalb plädiere ich hier einfach mal mehr für den Mittelweg: Musikjournalisten und Kulturmänner müssen lernen, dass es mit steigendem Alter auch immer mehr zum Job werden sollte, in Redaktionen Flächen und irgendwann auch Arbeitsplätze für jüngere Autoren und vor allem Autorinnen freizuräumen, und diese mit der eigenen längeren Schreiberfahrung anzuleiten – sonst reiten wir alle mit einer ganz bestimmten Leserschaft gemeinsam ins Grab. Nämlich der Leserschaft, die noch immer unter Artikel über Billie Eilish, Nina Chuba oder Taylor Swift „langweilig!“ postet, oder bei Facebook teilt, dass man jetzt lange Taylor und Nina und Billie gehört habe und nu allgemeingültig wisse, dass das alles Quatsch sei – was ja auch bedeutet: Alle deren Fans sind a bisserl dumm. Und das kann ja auch keiner wollen …

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