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Zwischen Liebe und Hass: Über den Spotify Jahresrückblick „Wrapped“ 2021

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Das Jahr neigt sich dem Ende zu, Weihnachten steht vor der Tür und die ersten Geschenke wollen gekauft werden. Viele Musikliebhaber:innen haben allerdings etwas ganz anderes im Kopf: den Spotify „Wrapped“ Jahresrückblick. Von vielen geliebt, von vielen gehasst, fasst dieser Jahresrückblick das musikalische Jahr der Spotify-Konsument:innen zusammen und zieht eine Bilanz in Zahlen. 

Zuerst einmal die weniger überraschenden Hardfacts: Auf globaler Ebene ist der puerto-ricanische Rapper Bad Bunny mit 9,1 Milliarden Streams der unangefochtene Top-Künstler, gefolgt von Taylor Swift. Was Deutschland angeht steht Bonez MC auf Platz eins, Luciano auf der zwei und Capital Bra auf Platz drei der Top-Künstler:innen, Sängerin LEA reiht sich erst auf Platz 24 als meist gehörter weiblicher Act ein.

Doch wirklich spannend wird es erst, wenn man sich den eigenen, personalisierten Rückblick anschaut. Von Freude und Nostalgie über Scham bis hin zu Neid lockt dieser nämlich die komplette Bandbreite an Gefühlsausbrüchen hervor – und schafft allem voran natürlich Redebedarf.

Auch in der DIFFUS-Redaktion sorgt der alljährliche Spotify-Rückblick für erhitzte Diskussionen. Ein Pro-und-Contra-Kommentar von Lena Klasen und Micha Wagner.

Pro – Warum der Spotify Jahresrückblick wunderbar ist (von Micha Wagner)

Der musikalische Zeitgeist ist dieser Tage schnelllebiger denn je. Deshalb ist der Jahresrückblick für mich vor allem eins: Reflektion und Besinnung auf das, was ich im vergangenen Jahr gehört habe. Ohne diese klare Übersicht würden unzählige Songs mit Evergreen-Potential in meinen zahlreichen Playlists versanden und von neuem Material verdrängt werden. Manuell würde ich mir sicher nicht die Mühe machen, mich zum Ende des Jahres durch all diese Musik zu wühlen – warum also nicht Spotify diesen Job akribisch verrichten lassen?

Wenn ich meine Top 100 durchzappe, schwelge ich in glückseliger Nostalgie und höre geliebte Songs mit einem neuen Ohr. Statt der eigentlichen Musik, schwingt jetzt auch eine Momentaufnahme mit. Wie ich mir bei meinem Nebenjob im Sneakerladen bei jeder Gelegenheit das Aux-Kabel geschnappt habe, um „Siberia“ von Headie One und Burna Boy anzumachen. Wie mich Fred Agains.. introvertierter Elektro-Sound durch zwei Lockdowns begleitet hat. Songs, die ich eigentlich längst tot gehört hatte, erfüllen mich auf einmal mit stillem Stolz: Du und ich, wir haben dieses Jahr einiges zusammen durchgemacht.

Dank der Playlist, die Spotify Wrapped uns ausspuckt, bleiben diese Zeitzeugnisse bestehen. Wie eine Zeitkapsel warten unsere Top 100-Playlists nur darauf, in ein paar Monaten oder Jahren wieder gehört zu werden und uns ein Fenster in eine andere Etappe unseres Lebens zu öffnen – ein persönliches Archiv aus Musik und Erinnerungen.

Neben Adventskalendern und sonstiger Weihnachtsvorbereitung ist Spotify Wrapped im Dezember DAS gesellschaftliche Thema Nummer 1. Und das völlig zurecht. Sobald der Spotify-Jahresrückblick online ist, werden in meinem Freundeskreis Screenshots davon herum geschickt und interessiert begutachtet, als wären es seltene Sammelkarten. Guilty Pleasures sorgen für schallendes Lachen, man zelebriert den gemeinsamen Lieblingssong oder entdeckt doch noch die ein oder andere bisher unbekannte Perle. 

Auf Social Media setzt sich das ganze fort: Was hört denn der oder die Lieblingskünstler:in selbst? Und was befindet sich auf der Playlist des geheimen Crushs? Dank Spotify Wrapped und unserem menschlichen Mitteilungszwang finden wir es heraus. Natürlich gibt es zig Menschen in meiner Timeline, deren Jahresrückblick mich eigentlich nicht die Bohne interessiert. Aber wenn ich ganz ehrlich bin, tut er das irgendwie eben doch, und wenn es nur zur Selbstüberhöhung und zum Suhlen im eigenen, natürlich viel besseren Musikgeschmack dient.

Und sowieso: Egal was ich höre, Spotify schafft es, daraus eine Präsentation zu zaubern, mit der ich mich wie der wichtigste und spannendste Mensch der Welt fühle. Das ganze Jahr über bekommen wir musikalischen Input von allen Seiten: Radio, vorgefertigte Playlists und jeden Freitag natürlich eine Sintflut von Neuveröffentlichungen. Mit unseren hundert meist gespielten Songs bietet Spotify dagegen eigentlich eine Playlist von uns, für uns. Es zählt nicht, was die Moderatorin im Radio über den Song sagt oder was die Schreiberlinge bei DIFFUS wieder in die Tasten gehackt haben, diese Songs sind hier, weil ich sie viel gehört habe.

Mit Wrapped macht Spotify unseren Musikgeschmack zum Ereignis – das hat seine Schattenseiten, worauf Lena sicher noch eingehen wird. Auf der anderen Seite ist es aber einfach super unterhaltsam. Spotify ist ein absoluter Gigant im Streaming-Game und hat dementsprechend das Budget, den Jahresrückblick professionell und aufwändig aufzubereiten. Jedes Jahr kommen kleine Features in der Präsentation hinzu und quasi jede Variable des Musik Hörens wird in Zahlen und Fakten gepackt – für Statistik-Fans ein einziges Schlaraffenland. Das Novum in diesem Jahr: Die eigene Musik-Aura. Was genau das bedeutet? Kann ich noch nicht sagen, bin noch in diese schicke orange-blaue Animation versunken.

Contra – Warum der Spotify Jahresrückblick nervt (von Lena Klasen)

Der Spotify-Jahresrückblick ist raus und das bedeutet für mich in erster Linie eines: Stress. Schon das Anschauen ist ein Wechselbad der Gefühle. Die ersten Screenschots von Freund:innen sind schon eingetrudelt und auch man selbst wird nicht drum herumkommen, das eigene musikalische Jahr mit dem Umfeld zu teilen. Bei jedem Slide des individuell generierten Rückblicks wächst also die Angst vor der nächsten Demütigung. Denn wie soll man erklären, dass „Daylight“ von den No Angels oder weitere Guilty Pleasures in der Top Playlist gelandet sind? Oder noch besser: Das Bibi Blocksberg-Hörbuch zum Einschlafen. Denn Spotify unterscheidet zwar zwischen Podcasts und Musik, macht jedoch keinen Unterschied zu Hörbüchern, sodass „Folge 130: Mami spielt verrückt“ bei mir scheinbar einer der meistgehörten Songs 2021 ist.

Und dann der Schock, wenn sich Chartgrößen und konsensfähige Top-Acts eingeschlichen haben und der eigene Musikgeschmack wohl doch nicht so exklusiv und nischig ist, wie man gerne denkt. Tauche ich nicht tief genug ein in die Musiklandschaft? Ist mein Geschmack doch „nur“ Mainstream? Und das war es noch lange nicht in punkto gesellschaftlichem Druck. 

Denn neben den meist gehörten Acts und Songs offenbart Spotify Wrapped auch die Anzahl gehörter Minuten – der perfekte und gleichermaßen gefürchtete Vergleichspunkt mit Freund:innen. Man muss darum bangen, eine der Meist-Hörenden zu sein, denn nichts ist uncooler, als sich nicht lange genug mit Musik zu beschäftigen – zumal man doch in der Branche arbeitet.

Ist dann der eigene Rückblick überwunden, gilt es Instagram für mindestens zwei Tage zu vermeiden – vorausgesetzt man möchte nicht die musikalische Jahreszusammenfassung der gesamten Community via Insta-Story zu sehen bekommen. Zugegeben: Die eigene Top 100 – Playlist ist ein cooles Add-On, zumal ich einige meiner Lieblingssongs von Anfang des Jahres schon fast vergessen hatte. Aber im Endeffekt ist sie auch nur das Pendant zu einem Fotoalbum vom Sommerurlaub 2013, an den ich zwar hin und wieder denke, die Bilder aber trotzdem nie wieder anschaue.

Aber auch jenseits der persönlichen Haltung stellt sich die Frage, was für einen Sinn und Zweck diese künstliche Zuspitzung des eigenen Musikkonsums auf Zahlen und Fakten haben soll. Was bringt etwa die Information, dass ich in diesem Jahr 107 neue Genres entdeckt habe (bei denen ich von mindestens 95 Prozent nicht einmal wusste, dass es sie gibt)? 

Etwas so Individuelles wie Musikgeschmack kann nicht gut oder schlecht, richtig oder falsch sein. Und doch erhält man mittels Anzahl der gehörten Genres, Minuten und Songs das Gefühl, es handle sich um einen Wettbewerb, den es zu gewinnen gilt. Dabei können noch nicht einmal alle teilnehmen. Denn auch wenn der scheinbar individualisierte Rückblick diesen Eindruck vermittelt: Viele Arten des Musik Hörens fallen gänzlich durchs Raster. Denn wer sagt, dass der meist gehörte auch gleichzeitig der Lieblingssong ist? Dass es mir die eigene Lieblingsband nicht wert ist, auf Vinyl und losgelöst von Streaming gehört zu werden? Etwas so Freies und Kreatives wie Musik lässt sich einfach nicht in Zahlen, Fakten und Statistiken fassen – darum sollte man es auch nicht versuchen.

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