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So geht Festival: Was wir von Tyler, the Creators Camp Flog Gnaw Carnival lernen können 

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Am vergangenen Wochenende fand auf dem riesigen Parkplatz des Dodgers Stadium in Los Angeles die zehnte Ausgabe des „Camp Flog Gnaw Carnivals“ statt. Das Festival wird von Tyler, The Creator veranstaltet und fand 2012 zum ersten Mal statt. Das Rap-Mastermind hat erst vor wenigen Wochen sein neues Studioalbum „Chromakopia“ veröffentlicht und steht seitdem unangefochten an der Spitze der amerikanischen Billboard Album-Charts. Mit einem Album, dass auf dem Papier eigentlich gar nicht dafür gemacht scheint, so erfolgreich zu sein. Sein eigenes Festival nutzte er nun dazu, „Chromakopia“ zum ersten Mal live zu präsentieren. Doch damit nicht genug: Tyler, the Creator lud viele weitere, teils befreundete Acts ein, um an zwei Tagen ein Festival nach seinen Ansprüchen zu veranstalten. Und diese sind hoch.

Doch von vorne. Als Disclaimer sei hier gesagt: Ich habe das Camp Flog Gnaw als Privatperson besucht und es im Hochsommer dieses Jahres irgendwie geschafft, ein Ticket zu ergattern. Der Run auf das Festival war riesig. Obwohl beim Start des Ticketverkaufs kein Lineup feststand, waren alle der 50.000 Tickets nach nur einer Stunde vergriffen – trotz eines stolzen Preises von 345 Dollar pro Karte. 

Kompromisslosigkeit ist King

Schon beim Blick auf das Lineup des Camp Flog Gnaw Carnivals fällt auf: Tyler, the Creator hat das Programm seines Festivals nicht nach reiner Größe oder Reichweite zusammengestellt, sondern vor allem nach seinen Vorlieben und der Qualität der Acts. Nicht die ganz großen Namen verkaufen hier Tickets, sondern das Urvertrauen der Fans in ihren Helden Tyler. Ganz nach dem Motto: Er wird schon wissen, was gut ist!

Mit Playboy Carti, Sexyy Redd, Doechii, Vince Staples, Denzel Curry, Action Bronson, Mase oder DJ Mustard & Friends stand ein beeindruckender Querschnitt von US-Rap auf der Bühne. Dazu gesellten sich angesagte R&B- und Indie-Pop-Acts wie Daniel Caesar, Raye, Blood Orange, The Marías oder Erykah Badu. Außerdem fanden Experimente wie die Flöten-Show von André 3000 oder „FM Mood“, eine Tribute-Show mit Orchester für MF Doom, statt. Alle Acts eint, dass sie zu den besten ihres Fachs gehören und teilweise seit Jahren ihren ganz eigenen musikalischen Ansatz verfolgen, egal ob dieser gerade „der heiße Scheiß“ oder Nischeninteresse ist. Qualität setzt sich eben durch. 

Schon als die „Swamp Princess“ Doechii am Nachmittag des ersten Festivaltages auf die Hauptbühne marschiert, feuert sie eine Live-Show ab, die mich und etliche weitere Besucher:innen sprachlos zurücklässt. Doechii zeigt eindrücklich, warum sie zurecht als „the next big thing“ gehandelt wird. Performance, Bühnenbild und Attitüde sind kompromisslos. Und diese Kompromisslosigkeit zieht sich auch durch Shows von Action Bronson, Vince Staples und Denzel Curry. Hier geht’s nicht um die großen Gesten, sondern um Musik in ihrer reinsten Form. Bei der MF Doom Tribute-Show fließen Tränen, bei Playboi Carti drehen die Rage-Kids trotz (oder gerade wegen) minimaler Live-Performance durch und Action Bronson versteht es mit Live-Band und Bong-Humor, sein Publikum zum Lachen und Nicken zu bringen. Dirigierte Mosh-Pits, animiertes Hinsetzen und Aufspringen? Fehlanzeige. Stattdessen: ein selbstständig agierendes Publikum, das im Moment lebt und ganz natürlich mit der Musik seiner Idole eine Symbiose eingeht. 

Tyler, the Creator spielt ein neues Level frei

Die Krone des Camp Flog Gnaw setzt sich allerdings der Festival-Macher mit der Live-Premiere von „Chromakopia“ selbst auf. Die ersten vier Songs des Sets von Tyler, the Creator sind die besten Konzert-Minuten, die ich in den letzten Jahren gesehen habe. Als Bühne dient ihm der jetzt schon ikonische, grüne „Chromakopia“ Fracht-Container. Begleitet von einfarbigen, reduzierten Visuals hält Tyler, the Creator eine Lehrstunde in Sachen Performance ab. Sein Auftritt ist eine Mischung aus Konzert und Theaterstück im besten Sinne. Jede noch so kleine Bewegung seiner Augen, jedes Zucken seiner Schultern, jeder Schritt ist perfekt bis ins kleinste Detail durchchoreografiert. Wenn ihr auf der Suche nach dem David Bowie oder Prince unserer Zeit seid – in Tyler findet ihr ihn.

Während sich viele internationale und deutsche Künstler:innen wahllos aus dem Werkzeugkasten mit der Aufschrift „Bühneneffekte – was man alles bei einer Live-Show machen kann“ bedienen, reduziert Tyler sein Konzert auf das Wesentliche. Dafür wird das Licht und die Pyrotechnik in Perfektion umgesetzt. Die Regie der Live-Bilder auf den Bildschirmen neben der Bühne ist perfekt auf jede seiner Bewegungen abgestimmt. Wenn Tyler etwas macht, dann macht er es richtig. Alles, was nicht zum übergeordneten „Chromakopia”-Konzept passt, muss weg.

Alles hat einen Zweck

Nicht nur seine Live-Performance ist ein Beispiel dafür, wie detailverliebt Tyler, the Creator arbeitet. Das gesamte Festival trägt seine Handschrift und wirkt wie aus einem Guss. Obwohl wir uns in einer Größenordnung von mehreren zehntausend Besucher:innen (und damit in einer Mainstream-Festival-Region) bewegen, bestimmen Kleinigkeiten das Gesamtbild. Camp Flog Gnaw ist eine Mischung aus Vergnügungspark und Pfadfinder-Feriencamp. Jeder Stand, jedes Plakat, jede Foto-Möglichkeit erfüllt einen Zweck. Auf dem gesamten Gelände sind Fahrgeschäfte und Jahrmarktstände aufgebaut, an denen Besucher:innen Camp Flog Gnaw-Gimmicks oder Merch gewinnen können. Und wenn man denkt, man hat alles gesehen, erspäht man eine mystische Sasquatch-Kreatur auf dem Dach des Dodgers-Stadions. 

Natürlich kann ein Festival solch einer Größenordnung nur durch die Finanzierung von Werbepartnern überleben. Tyler, the Creator weiß das, holt die Marken allerdings in seine Welt. Am Converse-Stand gibt es die exklusiven Chucks von Tyler, the Creator zu kaufen, Amazon Music überträgt nicht nur die Konzerte live, sondern fügt dem Camp einen Pilz-Wald hinzu und die Burger werden von Tylers liebstem LA-Franchise „Monty’s” verkauft. Die Botschaft ist ganz klar: Du möchtest einfach nur Werbung machen oder plump Dinge verkaufen und hast keine kreative Idee? Dann gibt’s beim Camp Flog Gnaw keinen Platz für dich. Egal wie viel Geld deine Marke mitbringt. Lieber nutzt Tyler den Platz, um in einer Fotoausstellung auf die Geschichte seiner Odd Future-Gang zurückzuschauen. 

Konsum, Konsum, Konsum

Tyler, the Creator steht seit jeher für mehr als „nur” Musik, er ist vielmehr ein umfassendes Gesamt-Kunstwerk mit einem Bein im Streetwear-Business. Bereits mit seiner Odd Future Gang verkaufte er regelmäßig sehr erfolgreich Mode-Kollektionen nach dem Vorbild von Marken wie Supreme oder Stüssy. Seit einigen Jahren gibt es die Modemarke GOLF, die natürlich auch auf seinem Festival nicht fehlen darf. An riesigen Verkaufsständen wird beim Camp Flog Gnaw eine Reihe von exklusivem und limitiertem Merchandise verkauft, mehr als 50 verschiedene Artikel sind in einer Preisspanne von 60 bis 275 Dollar zu haben. Bereits am Nachmittag des ersten Festivaltages ist der Großteil der Kollektion ausverkauft, Besucher:innen stehen teils fünf Stunden lang an, um die begehrten Shirts oder Hoodies zu ergattern.

Auch beim Merchandise zeigt sich: Tyler denkt weiter, als man es gewohnt ist. Es gibt Collab-Shirts und Jacken, die gemeinsam mit dem Baseball Team der LA Dodgers entworfen wurden. Die Mannschaft hat gerade erst die World Series, also das Finale der US-Baseball-Liga, gewonnen, dementsprechend beliebt sind diese Items. Es ist gleichermaßen beeindruckend und befremdlich zu sehen, wie sehr das Publikum dazu bereit ist, massig Geld für Exklusivität auszugeben. Fast alle Besucher:innen laufen mit riesigen, gelben GOLF-Tragetaschen, in denen meist mehr als nur ein Shirt zu finden ist, über das Festival-Gelände. Hier trifft Sneakerhead-Mentalität auf Musik-Fantum und gewinnorientierter Kapitalismus auf Kunst. Und auch wenn man für Fahrgeschäfte, Merchandise und Verpflegung eine halbe Niere lassen muss – Spaß macht der Konsum allen, auch mir.

Mehr als nur ein Festival

“Es war immer mein Traum, einen Ort zu schaffen, an dem wirklich alle zusammenkommen können. Camp Flog Gnaw ist dieser Ort. Danke euch für die Unterstützung – ihr macht das hier, zu dem was es ist.” Tyler, the Creator ist sichtlich bewegt, als er während seines Konzertes diese Worte an das Publikum richtet. Dass sein eigenes Festival im zehnten Jahr nicht nur lukrative Einnahmequelle, sondern weiterhin Herzensprojekt ist, wird spätestens jetzt allen klar. Tyler, the Creator hat ein Festival erschaffen, bei dem er selbst in der ersten Reihe steht und sich die gebuchten Acts anschaut. Seine Besucher:innen spüren diese Liebe zur Musik und tragen ihren Teil zum Gesamtkonzept bei. Wenn du ein cooles Outfit trägst oder dich gar wie Tyler verkleidest, bekommst du Lob an jeder Ecke des Festivals oder dein Idol retweeted dich kurzerhand. Es gibt kein Gerangel, keine schlechte Stimmung. Vielmehr steht die Musik beim Camp Flog Gnaw im Fokus: Überall wird diskutiert, wer wohl bei DJ Mustard als Secret Act dabei sein könnte und selbst eine große Verspätung und ein daraus resultierendes kurzes Set von Erykah Baduh wird ohne Murren zur Kenntnis genommen. 

Das Camp Flog Gnaw-Publikum ist für Musik und diese ganz besonderen Momente gekommen. Dafür, dass Tyler, the Creator sein neues Album zum ersten Mal spielt, dafür, dass The Weeknd bei Playboi Carti auf die Bühne kommt, dafür, dass MF Doom als das gewürdigt wird, was er war: einer der größten Rapper der Geschichte. Aber eben auch dafür, dass Newcomer:innen wie Doechii zeigen können, was sie drauf haben. Oder dafür, dass The Marías ihren wunderschönen Dream-Pop vorstellen können. Im konstanten Überfluss an Reizen hat das Camp Flog Gnaw einen Weg gefunden, scheinbar konträre Welten zu vereinen. Konsum trifft auf Kunst, echte Glücks-Momente im Hier und Jetzt treffen auf die Gesetze des Internets. Es geht um ein Festival-Erlebnis der besonderen Art oder anders gesagt: Tyler, the Creator hat scheinbar den Code für Massen-Musiktourismus geknackt. In diesem Sinne: See you at Camp Flog Gnaw Carnival 2025!

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