Zum ESC in Basel: Was geht in der Schweiz in Sachen Rap, Indie & Co.?
Beginnen wir diesen Text mit einem kleinen Crashkurs in Sachen Schweizerdeutsch. Und wer könnte das besser als das Songwriterinnen-Duo Steiner & Madleina, die ja seit Jahren regelmäßig bei DIFFUS passieren und von ihrer Homebase Zürich aus startend auch in Deutschland sehr umtriebig sind:
So viel zum Einstieg: Eine meiner ersten Erkenntnisse, seit ich regelmäßig in der Schweiz bin, ist die Tatsache, dass Schweizerdeutsch eine faszinierende „Sprache“ ist. Wobei man laut Lexikon eigentlich sagen müsste, es ist ein „alemannischer Dialekt“. Noch besser wäre, man setzt das in den Plural, denn das jeweilige Schweizerdeutsch in Zürich, im Wallis, in Zug und vor allem in Bern ist jeweils eine eigene Geschichte. Es braucht zwar eine Weile, bis man die nötigen drei Viertel einer Unterhaltung versteht, um nicht mehr bloß verwirrt zu nicken, sondern auch was beitragen zu können, aber dann ist es ein nie endender Spaß. Deutsch spricht man übrigens auch nur im größten Teil der Schweiz – Italienisch, Französisch und Rätoromanisch werden im Land ebenfalls gesprochen. Das von uns präsentierte Montreux Jazz Festival findet übrigens im französischsprachigen Landesteil statt – der Romandie.
Da durch den Eurovision Song Contest in Basel gerade ja ein Fokus auf unsere Nachbarn liegt, wollte ich euch heute mal einladen, ein wenig durch die Schweizer Musikszene zu streifen. Ein Überblick, der natürlich nur unvollständig sein kann und bitte nur als Einstieg zu verstehen ist.
Schwiizrap
Beginnen wir mit einem Blick auf einige Player:innen der Rap-Szene. Loredana, Monet192 und RAF Camorra muss man ja nicht mehr groß vorstellen. Hierzulande weniger bekannt – vielleicht, weil er auf Französisch rappt – ist Stress, der in seiner Heimat schon mal als „Patron des Schweizer Rap“ bezeichnet. In Tallin geboren, kam er Ende der 80er als junger Teenager mit seiner Mutter in die Schweiz und ist rap-technisch seit über zwei Jahrzehnten im Game – wenn auch nicht mehr so aktiv wie früher.
Von der jüngeren Rap-Generation gefällt mir Gigi am besten. Sie fährt einen sehr modernen Sound und hat sich – zumindest für ihr Debütalbum – entschieden, auf Schweizerdeutsch zu rappen und zu singen. Vor allem „Gigi & Tina“ hat einen sehr spannenden Punch und spielt mit Schweiz- und Pferdemädchen-Klischees.
Ebenfalls auf Schweizerdeutsch unterwegs ist Luuk, der mit Songs wie „Wo ich herchume“ beweist, dass man auch in einem der reichsten Länder der Welt sozialkritisch rappen kann.
Die in Freiburg (Fribourg) lebende SGB ist eine Rapperin, die für eine diverse, weltoffene Schweiz steht und in ihren Lyrics kräftig austeilen kann. Sie switchte vor einigen Jahren ins Schweizerdeutsche. Einer ihrer besten Tracks ist „BAM BAM“ mit Rap-Kollege Mabuyu.
Baby Volcano hat mich vor ein paar Jahren auf dem Haldern Pop ziemlich umgehauen. Sie hat ihre Wurzeln in Guatemala und in der Schweiz – erstere hört man ein wenig deutlicher.
Ebenfalls mal reinhören solltet ihr bei Soukey, EAZ, Lo & Leduc, Cachita und Loco Escrito – um nur einige zu nennen. Wer wissen will, wie der Puls in Sachen Schwiizrap gerade so geht, sollte im Netz nach der jährlich stattfinden „Bounce #CYPHER“ des öffentlich-rechtlichen SRF suchen. Ein Rap-Event, bei dem bis zu 80 Rapper mit exklusiven Texten antreten. Hier fing übrigens auch die Musikkarriere von Nemo an – mit schweizerdeutschem Rap. Nemo kehrte in diesem Jahr zurück und rappte fast wütend von einem zehrenden Jahr nach dem ESC-Sieg.
Hueregut und mit Gitarre
Wenn ihr in der Deutschschweiz seid, müsst ihr euch zwangsläufig dran gewöhnen, dass euch das Wort „huere“, das sich leider wie „Hure“ spricht (angeblich aber einen anderen Wortstamm hat), ein wenig leichter über die Lippen geht. Das wird nämlich von Gen X, Gen Z und Gen Alpha gleichermaßen benutzt, wie Boomer das Wort „mega“ benutzen würden. Hier kommen also ein paar – spießig übersetzt – sehr gute Künstler:innen und Bands, die mit akustischen oder verzerrten Gitarren unterwegs und hueregut, also sehr gut sind.
Steiner & Madlaina (die den Artikel ja schon eröffneten) dürfen hier natürlich nicht fehlen. Sie sind hierzulande natürlich vor allem durch ihre hochdeutschen Lieder bekannt geworden, haben aber tradtioniell immer einen schweizerdeutschen Titel auf ihren Alben. Einer der schönsten ist die traurige Ballade „Ich blibe und du gahsch“ vom 2023er-Album „Risiko“.
Madlaina ist übrigens die Schwester von Faber, und beide wiederum sind die Kinder eines in der italienischsprachigen Schweiz sehr bekannten Musikers: der italienische Cantautore Pippo Pollina. Faber muss man hier ja nicht mehr groß erklären, weil wir schon sein letztes Album „Addio“ vorgestellt haben. Aber er ist auch Teil eines Trios, das eine der schönsten schweizerdeutschen Songwriter:innen-Alben aufgenommen hat: Mit der in DIFFUS-Kreisen ebenfalls schon bekannten Sophie Hunger und dem Songwriter Dino Brandão veröffentlichte er 2020 „Ich liebe dich“, wo die Drei mal zusammen, mal einzeln singen. Mit „A Nacht a de Langstrass“ führt uns Faber auf die Rotlicht- und Partymeile Zürichs (ja, das gibt’s da auch) und erzählt von einer „typischen“ Absturznacht dort. In den Clubs an der Langstrasse findet dann übrigens im September auch das Radar Festival statt. Schönste Songzeile: „Ich bi nöd gentrifiziert / Nei das sind alles echti Gfühl / Do isch schöner als z’Paris / Und geiler als z’Berlin.“
Dino Brandão solltet ihr (ebenso wie Sophie Hunger natürlich) mal solo auschecken. Er veröffentlichte vor gut einem Jahr mit „Self Inclusion“ ein fantastisches Soloalbum, auf dem er poetisch und mal ernst, mal gallig-lustig von Liebe, Mental Health Struggles und Politik erzählt. Im vielleicht besten Song „Hybrid“ singt er von einem Thema, das auch in der Schweiz viele konservative Menschen triggert: Migration.
Die Schweizer Singer-Songwriterin Joya Marleen könnte und sollte man als Indie-Fan als Deutschland auch schon auf dem Zettel haben. Sie hat im Januar ihr Debütalbum „the wind is picking up“ veröffentlicht. Das ist meiner Meinung nach der beste Song darauf:
Noch recht neu und eher alternativ-rockig und dem Grunge nah ist die Sängerin und Songwriterin Gini Brown mit ihrer Band unterwegs. Offiziell sind erst zwei Songs draußen, aber vor allem „Milky Way“ schafft diese spannende Balance zwischen Atmosphäre und Punch – wenn das noch etwas druckvoller produziert wird, sind wir so was von ready …
Auch diese junge Schweizer Musikerin gab es schon bei DIFFUS mit einer Songempfehlung. Trotzdem muss ich Akryls „Blumen aus Metall“ hier noch mal droppen, damit auch die Letzten merken, wie genial dieser Song ist.
Schillernder Pop
Wie schillernd und groß Pop made in Switzerland sein kann, hat Nemo im letzten Jahr eindrücklich bewiesen. Aber es gibt noch viele andere, hell oder auch düster schillernde Pop-Acts. Zum Beispiel Valentino Vivace, mit seinem modernen Italo-Pop-Update.
Bei den Musikerinnen müsst ihr unbedingt die amerikanisch-schweizerische Milune auf dem Zettel haben: Sie gilt als „neuer Stern am Schweizer Pop-Himmel“, wie es die Boulevardpresse kürzlich formulierte. Im März kam ihr Debütalbum „Hearts Lust“ – „moonflower“ ist die aktuelle Single daraus:
Auch über Kings Elliot schrieb und schreibt man in der Schweiz ähnlich hymnisch wie über Milune. Und das völlig zurecht: Ihr alternativer Pop, in dem sie oft ihre mentalen Kämpfe verarbeitet, geht unter die Haut und ist dabei trotzdem catchy und radiotauglich.
Die O.G.s der Schweizer Musikgeschichte
Zum Schluss noch ein paar Pioniere der Schweizer Musikgeschichte, die man kennen könnte und sollte. Die Band, die eine Hauptschuld an der NNDW trägt – die Post-Punk-Band Grauzone – kommt aus der Schweiz. Ihre Geschichte haben wir hier schon einmal ausführlich erzählt. Da „Eisbär“ ja allgemein bekannt ist, kommt hier ein weiterer Hit von ihnen:
Die Post-Industrial-Band The Young Gods ist bereits seit Mitte der 80er aktiv – und gilt als wichtiger Einfluss für Bands wie Nine Inch Nails und Minstry, die diesen Sound aufgriffen und in noch dunklere Gefilde zogen. Auch Faith No More-Mastermind ist bekennender Fan. The Young Gods waren durchgehend aktiv und veröffentlichen im Sommer ihr neues Album „Appear Disappear“.
Dieser – etwas ausgeuferte und trotzdem unvollständige – Streifzug endet mit dem GOAT der schweizerdeutschen Musik: Mani Matter. Der 1936 geborene Liedermacher starb leider 1972 bei einem Verkehrsunfall auf dem Weg zu einem Konzert in Rapperswill. Seine Lieder sind beim ersten Hören etwas schwer zu greifen – weil: Berndeutsch ist ne harte Nummer –, wer sich aber drauf einlässt, findet einen sehr politischen und gewitzten Texter.
In „Dynamit“ singt er zum Beispiel darüber, wie er nachts vor dem Bundeshaus in Bern (das Schweizer Äquivalent zum deutschen Bundestag) einen Anarchisten trifft, der das Gebäude in die Luft jagen will, was Matter ihm erfolgreich ausreden kann. Toll ist auch seine Lehrstunde im Schweizerdeutschen Beleidigen. In „E Löl, e Blöde Siech, e Glünggi und e Sürmel, oder: Schimpfwörter si glücksach“ reiht er ausschließlich Beleidigungen aneinander.
Sein größerer Hit bleibt aber das politische und lustige „I han es Zündhölzli azündt“, in dem Matter davon erzählt, wie er (fast) einen Streichholz auf den Boden fällen lässt, und damit nach und nach einen Weltenbrand auslöst, der am Ende den ganzen Planeten zerstört. Ein Lied, das auch heute noch gut in die Zeit passt, wo viele Politiker eher im großen Stil zündeln.
P.S.: Wie bereits mehrfach betont, ist das nur ein recht kleiner Blick in eine sehr lebhafte Musikszene. Die übrigens auch schon länger immer wieder mal bei DIFFUS passiert. So findet ihr schon Artikel über Schweier Acts wie Soft Loft, Panda Lux, Jeans for Jesus, Ika Ikan Hyu oder Benjamin Amaru.
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