Schnell, schneller, TikTok: Wie „Sped Up“-Songs den Markt erobern
Im März 2022 veröffentlicht die Newcomerin Domiziana ihre erste Single „Ohne Benzin“. Die Nummer zwischen Hyperpop und Techno-Nostalgie findet schon damals Anklang in der Szene, wird aber schnell von der stetigen Releaseflut überspült und in den Hintergrund gedrängt. Bis der Song dann Monate später wieder neue Aufmerksamkeit erlangt und irgendwann sogar an die Chartspitze klettert – ganze 105 Tage nach der ursprünglichen Veröffentlichung. Der Grund? Eine beschleunigte Version des Songs geht auf TikTok viral und wird schließlich sogar von Domiziana und ihrem Produzenten Replay Okay als „1,1x Speed Version“ offiziell veröffentlicht. „Die Idee bei der ‘1,1x Speed Version’ war, dass es in Zukunft wohl auch 2x oder 3x Speed Versionen geben könnte, was ich belustigend und realistisch zugleich fand“, erzählt uns Replay Okay und malt so ein Szenario, das keinesfalls abwegig ist.
#spedup entstaubt vergessene Hits
„Ohne Benzin“ ist damit wohl der erste Song einer deutschen Künstlerin, der solch eine zweite Blüte erfährt, dabei ist das Phänomen der überschnellen Remixe gar nicht so neu. Unter dem Hashtag „#spedup“ tummeln sich auf TikTok längst tausende von Clips mit populären Songs und solchen, die es gerne wären, in beschleunigter Version. Charlotte Stahl, Head of Music bei TikTok Deutschland, sagt dazu: „Wir beobachten das Phänomen seit einigen Monaten. In dieser Zeit sind immer mehr so genannte ‚Sped up‘ wie auch ‚Slowed down‘ Tracks, also schneller oder langsamer abgespielte Versionen von Songs, auf TikTok aufgetaucht und dann auch offiziell veröffentlicht worden.“
Aktuell erfreuen sich so zum Beispiel alternative Versionen von Steve Lacys „Bad Habit“ oder „Escapism“ von Raye und 070 Shake größter Beliebtheit. Kurioser wird es dann, wenn eigentlich längst angestaubte Hits wie „Mockingbird“ von Eminem, „Cool for the Summer“ von Demi Lovato oder zuletzt „Bloody Mary“ von Lady Gaga wieder in neuem Licht erstrahlen. Bei TikTok freut man sich natürlich über das muntere Remixen: „Wir sind begeistert, wie die TikTok Community mit Musik interagiert und experimentiert. Ältere Hits werden plötzlich wieder populär und beliebte Beats werden neu interpretiert. Auf TikTok gibt es zahlreiche Musikschaffende und Fans, die ihre Kreativität mit anderen teilen und ich bin überzeugt, dass wir demnächst noch viele weitere Remixe auf der Plattform hören werden.“, sagt Charlotte Stahl.
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Anime-Fans und Streifenhörnchen hatten den richtigen Riecher
Die Faszination für Songs in verfremdetem Tempo ist dabei natürlich schon älter als der Social Media-Riese. Man denke nur an Nightcore, jene obskure Nische des Internets, in der populäre Musik mit überhöhter Geschwindigkeit und Anime-Ästhetik abgefeiert wird – und das schon seit über zehn Jahren. Oder die „Chipmunk“-Versionen, die zur Zeit der gleichnamigen Kinofilme um die animierten Streifenhörnchen überall kursierten und Rihanna, Maroon 5 und Co. Quietsche-Stimmen verpassten. Das Ganze funktioniert natürlich auch anders herum: Verlangsamte Versionen gibt es spätestens seit die Tumblr- und Cloud Rap-Generation verstanden hat, dass Frank Ocean und Playboi Carti mit „Slowed + Reverb“ gleich doppelt so melancholisch und verträumt klingen – vom Lean-getränkten Chopped & Screwed der Südstaaten mal ganz zu schweigen.
Schnelle Musik für die kurze Aufmerksamkeitsspanne
Auch nicht zu vernachlässigen: In der grauen Vorzeit, als YouTube noch um Copyrights zu kämpfen hatte und im Zwist mit der GEMA lag, waren offizielle Versionen beliebter Songs aus heutiger Sicht erstaunlich rar auf der Videoplattform. Schon damals kam der ein oder andere pfiffige User auf die Idee, die BPM nach oben oder unten zu verschieben, um einer Sperrung zu entgehen. Was also als Werkzeug für die Robin Hoods des „Graumarkts“ seine Anfänge hatte, ist heute mehr en vogue denn je. Aber warum ist das denn nun so? Replay Okay, der Produzent hinter Domizianas „Ohne Benzin“, mutmaßt: „Ich glaube, dass die Beschleunigung in allen Dingen unsere Zeit prägt und der durch die beschleunigte Version schnellere Input von Informationen bzw. Musik für das heutige Gehirn anregender ist“.
Die Art, wie wir heute Medien konsumieren, ist längst eine andere als zu Zeiten von Alvin & The Chipmunks. Die Endlos-Feeds von TikTok, Instagram und Co. basieren darauf, dass Bilder, Inhalte und nicht zuletzt auch Musik möglichst schnell aufgenommen und verarbeitet werden. Und auch die Erstellung funktioniert schneller denn je: Sogar absolute Technik-Amateure können innerhalb weniger Minuten eine „Sped Up“-Version erstellen – und das sogar am Handy. Neue Kombinationsmöglichkeiten können in Windeseile entdeckt werden, aus Thundercats sexy-funky „Them Changes“ wird im Handumdrehen ein komisch-skurrile Sensation.
Kunst oder Kommerz?
Zunehmend springen jetzt auch die Künstler:innen und ihre Labels bei dem Trend auf. Aus einem TikTok-Sound von einem privaten User lässt sich kein Kapital schlagen, auch wenn die viralen Clips etwaige Interessent:innen schnell zum normal-schnellen Original führen. Oder aber man kommt seinen Fans zuvor und veröffentlicht einfach gleich selbst die „Sped Up“- und „Slowed Down“-Version – ein Schritt, den viele Künstler:innen inzwischen gehen. Das Schema funktioniert dabei wie folgt: Man veröffentlicht eine Single, feuert mit kurzem Abstand die beiden alternativen Fassungen hinterher und multipliziert so seine Chance, dass einer der „drei“ Songs funktioniert. Ein zugegebenermaßen kommerzielles Denken, dass man den Artists in einer Zeit, in der jeder Stream nur Cent-Bruchteile wert ist, aber kaum verübeln kann.
Dabei gerät die künstlerische Eigenständigkeit und Authentizität ein wenig ins Wanken: Sollte man als Musiker:in nicht von vornherein seinen Song in dem Tempo veröffentlichen, das man für angemessen hält? Eine weitere Schattenseite, die mit dem „Sped Up“-Hype kommt, ist die musikalische Gleichförmigkeit. Die hohe Geschwindigkeit führt automatisch dazu, dass der Gesang höher gepitcht wird und stimmliche Merkmale verloren gehen. Dadurch treten etwaige Makel in den Hintergrund, genauso aber auch besondere Gesangsleistungen, wie die rauchige Schwere von Lana Del Reys „Summertime Sadness“, die in der „Sped Up“-Version eben mehr nach Chipmunks als nach Sad Girl Tumblr klingt. Beschleunigte Songs klingen schnell künstlich fröhlich und beinahe „niedlich“, verlangsamte Stücke dagegen schleppend und finster – einzelne Details treten zugunsten dieser grundlegenden Atmosphäre in den Hintergrund.
Kreativer Nährboden für den (Hyper) Pop
Das soll aber keineswegs heißen, dass die Freude an schnelleren Beats und gepitchten Stimmen eine Sackgasse ist. Schließlich war die Verwendung von bearbeiteten Vocal-Schnipseln im Werk von Dipset & Konsorten zur Jahrtausendwende auch nicht der Todesstoß für Soul und Funk, sondern hat wohl eher dafür gesorgt, dass eine neue Zielgruppe jene Genres für sich entdeckt. Im Hier und Jetzt ist es vor allem die aufstrebende Hyperpop-Szene, die sich mit Begeisterung von der rasanten Geschwindigkeit inspirieren lässt. Künstler:innen wie 100gecs und meat computer oder hierzulande Tr1esch, Baby B3ns und Yung Hurn spielen mit androgynen Stimmen und lassen temporeiche Genres wie Trance, Drumn ’n Bass und Hardcore in ihre Musik einfließen. Gerade letzterer empfängt den aktuellen Zeitgeist mit offenen Armen: Auf seinem „Crazy Horse Club Mixtape, Vol. 1“ rappt der Wiener fast ausschließlich mit Quietsch-Stimme und platziert schnelle und langsame Versionen desselben Songs provokant Rücken an Rücken.
Der Umgang mit unkonventionellen Geschwindigkeiten und Stimmlagen folgt hier einem wirren, aber deutlich sichtbaren roten Faden. Und auch bei Newcomerin Tr1esch passt der fiepsige Vortrag in ihrer neuesten Single „AirDrop“ stimmig in das Konzept einer Bestandsaufnahme unserer durchdigitalisierten Popkultur.
Ob die klassische „Sped Up“-Version, wie wir sie im vergangenen Jahr zunehmend gehört haben, Bestand haben wird, ist fraglich, ihre Spuren hinterlässt sie allerdings schon jetzt. Sogar Southstars Underground-Hit „Miss You“ setzt auf die „Sped Up“-Ästhetik und kleidet Oliver Trees Grunge-Pop-Original in scheppernde Trance-Sounds bei 145 BPM. So lange unser Medien-Konsum so sehr auf Geschwindigkeit getrimmt bleibt, wird auch unsere Musik sich diesem Tempo anpassen. Aber jeder Trend kommt bekanntlich mit ein paar Fischen, die gegen den Mainstream schwimmen und daraus kann schnell eine ganze Gegenkultur werden. Ob auf die „3x Speed Version“ also irgendwann der „30h Ambient Remix“ folgt? Wir bleiben gespannt.
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